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Richard von Weizsäcker (links) als Regierender Bürgermeister von Berlin mit dem damaligen US-Vizepräsidenten George Bush und Bundeskanzler Helmut Kohl am 31. Januar 1983 an der Berliner Mauer

© dpa/Konrad Giehr

Interview von 2010: Richard von Weizsäcker zu 20 Jahren Wiedervereinigung

In einem Interview mit dem Tagesspiegel vor fünf Jahren zum 20. Jubiläum der Deutschen Einheit sprach der jetzt gestorbene Richard von Weizsäcker über die Nacht der Wiedervereinigung, den Weg dorthin und die Folgen. Lesen Sie das Interview hier noch einmal nach.

Altbundespräsident Richard von Weizsäcker ist am Samstag im Alter von 94 Jahren gestorben. Zum 20 Jahrestag der Wiedervereinigung hatte er dem Tagesspiegel das folgende Interview gegeben.

Heute vor 20 Jahren haben Sie, Herr von Weizsäcker, als damaliger Bundespräsident um null Uhr vor dem Deutschen Reichstag die Wiederherstellung der deutschen Einheit erklärt. Wie war Ihnen in dieser herbstlich kalten Vollmondnacht zumute?

So wie den vielen Menschen, die mit mir dort standen oder sich vor dem Reichstag versammelt hatten, bis hinein in den Tiergarten. Uns alle erfüllte der Gedanke, dass mit diesem Ereignis der Kalte Krieg zu Ende ging und ein Europa begann, das zwar aus postklassischen Nationalstaaten besteht, aber den Weg zu einer gemeinsamen Stimme sucht. Es ging darum, die Vereinigung unseres Landes mit dem Ziel zu vollenden, zum Frieden und Zusammenwachsen Europas beizutragen.

Nach 20 Jahren ist dieser Akt der Wiedervereinigung Geschichte. Was bedeutet er Ihnen heute? Was sollte er uns Deutschen insgesamt bedeuten?

Dank unserer Vereinigung, als Mitglied der EU und des Transatlantischen Bündnisses, leben wir heute zum ersten Mal in unserer Geschichte in Frieden mit allen unseren neun Nachbarn. Das ist ein historisches Glück und zugleich eine große Verantwortung für uns.

Aber erinnert der ganze Vorgang im Rückblick nicht auch an die Ballade vom Ritt über den Bodensee? Da erschrickt der Ritter, weil ihm plötzlich bewusst wird, dass er über den vereisten See geritten ist. Inzwischen öffnen sich die Archive und belegen, mit welchen Risiken der Einheitsprozess zu tun hatte.

Das war doch kein Ritt über das Eis! Vielmehr hatten wir von Westdeutschland aus einen führenden Anteil daran, den Kalten Krieg Schritt für Schritt durch eine Ost-West-Entspannungspolitik zu entschärfen. Wir bedurften für das Ziel der Vereinigung der Zustimmung der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und unserer Nachbarn. Das ist Schritt für Schritt gelungen. Aus Amerika gab es maßgebliche Unterstützung. Schwer war es für Gorbatschow. Aber es half, dass es ihm darum ging, Fortschritte der Abrüstung zwischen Ost und West zu erzielen. Die Briten, zumal Premierministerin Thatcher, waren nicht begeistert, aber sie stellten sich auch nicht in den Weg.

Und die Franzosen, mit denen die Bundesrepublik immer eine enge Zusammenarbeit gesucht hatte?

Zwischen Frankreich und der Bundesrepublik waren wir einig, die Europäische Union zu festigen und zu stärken. Charles de Gaulle und Konrad Adenauer hatten Grundsteine gelegt. Kanzler Helmut Schmidt und Präsident Valérie Giscard d’Estaing arbeiteten auf demselben Weg voran. Helmut Kohl, immer ein zutiefst überzeugter Europäer, verstand es, sich mit François Mitterrand näherzukommen. Mitterrand hatte seinerseits klare historische Perspektiven vor Augen. Er war schließlich davon überzeugt, dass kein Weg an der Vereinigung Deutschlands vorbeiführen würde. Kohl wurde auf diesem Weg zum Kanzler der Einheit.

Zweifellos eine bedeutende diplomatische Leistung, aber haben wir nicht vor allem auch Glück gehabt?

Es war nicht Glück, es war nicht nur eine diplomatische, sondern eine große historische Leistung und zwar durch eine planmäßige Entspannungspolitik. Sie hatte schon mit dem sogenannten Harmel-Plan Ende der 60er Jahre begonnen. Sie führte zur Gipfelkonferenz 1975 in Helsinki. Es entstanden freie Räume für Bürger mit ihren friedlichen Zielen. In Prag war es Vaclav Havel mit seinen mutigen politisch-kulturellen Schritten. In Polen kam es zur Solidarnosc-Bewegung von Lech Walesa. Sie hat entscheidende Beiträge zur Entspannung und damit auch zur deutschen Vereinigung geleistet. So entstand auch die Bürgerbewegung innerhalb der DDR. Sie wuchs aus kleinen Anfängen heraus zu ebenso machtvollen wie vollkommen friedlichen Demonstrationen. Ihre Ruhe wurde zu ihrer Stärke, bis schließlich am 9. Oktober 1989 70 000 Demonstranten in Leipzig für Recht und Freiheit warben. Gorbatschow hatte das Eingreifen sowjetischer Truppen gegen diese Aufmärsche verhindert. Der Weg zur friedlichen Revolution wurde unumkehrbar.

Wir ernteten also in der Wiedervereinigung die Früchte eines Veränderungsprozesses, der weit zurückreichte …

Das ist meine Überzeugung. Aber noch einmal: Wir hatten gleichzeitig Gorbatschow, dessen weltpolitische Linie darauf abzielte, die vorher vorherrschende beiderseitige Aufrüstung zwischen Ost und West in ihr Gegenteil zu verwandeln.

Sie haben am 3. Oktober 1990 gesagt, nun komme es darauf an, „die Alltagssorgen ins rechte Verhältnis zu bringen mit unserer Herkunft und Zukunft in Europa“. Haben wir dieses „rechte Verhältnis“ gefunden? Hört man die Klagen über den Stand der Einheit, kann man das bezweifeln.

Das sind zwei unterschiedliche Ebenen: Wie steht es mit der Einheit zwischen den beiden Teilen Deutschlands und wie mit unseren Aufgaben und Verantwortlichkeiten in Europa? Im Inneren gibt es auf der einen Seite große Fortschritte. Wir haben gelernt, was es heißt: Wer sich vereinigen will, muss teilen lernen. Das ist in eindrucksvoller Weise geschehen. Die Straßenverhältnisse, die Bahn- und Fernmeldeeinrichtungen, die Fortschritte auf dem Gebiet des Umweltschutzes geben ein positives Zeugnis ab. Auch wirtschaftlich gibt es wahrhaft eindrucksvolle Erfolge. Andererseits ist aber die Arbeitslosigkeit in den östlichen Bundesländern nach wie vor deutlich zu hoch. Dazu hat auch die Abwanderung vor allem aus der jungen Generation nach Westen beigetragen. Ein Bürgermeister in der nördlichen Uckermark schilderte mir Entwicklungen, Erfolge und Probleme. Zwischendurch sagte er: „Ich bin 37 Jahre alt und einer der jüngsten Männer im Dorf.“

Das ist ein Preis der Vereinigung, den man sich – wie andere Folgen, die Deindustrialisierung alter Wirtschaftsregionen oder das Aufkommen rechter Umtriebe – bei der Vereinigung so nicht hat vorstellen können. Ist er zu hoch?

Die Vereinigung lag tief in den Wünschen der allermeisten Deutschen in beiden deutschen Staaten. Aber wir haben vielfach nicht angemessen vorausgesehen, welche gewaltigen Schwierigkeiten dieser Prozess mit sich bringen würde. Und vor allem: Wir hatten nur wenig Zeit! Denn wir bedurften der Zustimmung von Gorbatschow. Doch er stand kurz vor seiner Abberufung.

Viele sagen, es wäre besser gewesen, wenn man es bei der Vereinigung langsamer hätte angehen lassen. Wenn man der DDR mehr Raum für eigene Entwicklungen gelassen hätte anstatt sie mit der geballten Kraft des Westens zu überrollen …

Die Verhältnisse ließen es nicht zu. Wir hatten doch nicht die freie Wahl. Ende November 1989 hielt Kohl seine große Zehn-Punkte- Rede im Bundestag. Sie hatte einen entscheidenden positiven Einfluss auf die Entwicklung. Im März 1990 fanden die ersten freien Wahlen in der DDR statt, darauf folgte das kurze Zwischenspiel der freien Volkskammer und der von ihr getragenen Regierung, an das wir immer nur mit Dankbarkeit denken können, weil sie eine schwere Entscheidung nach der anderen treffen mussten, ohne unnützen Parteienstreit …

... was allerdings im öffentlichen Bewusstsein leider ziemlich untergegangen ist.

Ich rede davon, wie Parteien und ihre Führungen, die sich ansonsten bekämpfen, in dieser Zeit miteinander umgegangen sind, auch in der Konkurrenz miteinander. Das ist ein hervorragend gutes Beispiel in der ganzen Parlamentsgeschichte auf deutschem Boden.

Aber ist im Vereinigungsprozess nicht doch eine ganze Menge auf der Strecke geblieben? Vielleicht sogar das Wichtigste – der Schwung eines Neuanfangs, die Freude über die Einheit?

Zwei Tage nach dem Mauerfall habe ich in Berlin an einem Gottesdienst teilgenommen, den Christen aus dem Westen und dem Osten erstmals wieder gemeinsam in der Gedächtniskirche gefeiert haben. Dabei gingen wir, wie es in der Kirche angemessen ist, von einem Pauluswort in einem Brief an die Galater aus, in dem es heißt: „So bestehet nun in der Freiheit“. Damit war gemeint: Freiheit bedeutet Verantwortung, und Verantwortung bedeutet Solidarität. Diese Solidarität zu praktizieren, daran werde sich erweisen, ob wir in der neu gewonnenen Freiheit bestehen. Wir mussten lernen, vor allem wir im Westen, dass sich vereinigen teilen lernen heißt. Man muss sich ja immer vor Augen halten, dass der Westen und der Osten in Bezug auf ihre Größe in einem Verhältnis von vier Fünfteln zu einem Fünftel zueinander stehen.

Und haben die Deutschen in der Freiheit, die ihnen geschenkt wurde, bestanden? Oder bleiben wir mit unserer Praxis der Einheit im Alltag unter den Möglichkeiten, die sie uns eröffnet hat?

Zweifellos haben wir nicht in jeder Richtung bestanden. Aber ist das verwunderlich? Sich vereinigen heißt teilen lernen, das gilt bis zum heutigen Tag. Aber mittlerweile sind zum Beispiel die Solidaritätszuschläge – die wir alle bezahlen – Bestandteil der staatlichen Haushalte geworden. Das Empfinden, dass wir mit ihnen die Vereinigung konkret fördern, ist für uns normale Bürger und Steuerzahler zu wenig erkennbar. Was nichts daran ändert, dass es notwendig ist und bleibt, auch noch bis zum Jahr 2019.

Nach zwanzig Jahren ist die Einheit kaum noch Gegenstand erregter Auseinandersetzungen. Niemand spricht heute noch vom „Super-GAU“. Heißt das, dass sich die Situation gebessert hat? Oder haben wir uns nur an sie gewöhnt, auch an ihre Widersprüche? Manchmal kann man ja den Eindruck gewinnen, sie sei ein Schauspiel, das im Osten stattfindet, manchmal sogar ein Drama – und der Westen sitzt auf den Rängen, schaut zu und zahlt. Weil er das Gefühl hat, es geht ihn im Grund doch nichts an.

Nein, dieser Schilderung stimme ich durchaus nicht zu. Gewiss, die Vereinigung hat für die Bürger im Westen relativ wenig an ihrem normalen Leben geändert. Es mag auch einen Mangel des Westens an Einsicht in die östlichen Lebensverhältnisse geben. Aber wir wachsen doch auch in der Kenntnis unserer Geschichte mehr und mehr zusammen. Gerade lese ich, Köln ist jetzt die vierte Millionenstadt in Deutschland geworden. Gut für Köln – aber die Wiege für die ersten Schritte in Richtung auf eine spätere deutsche Nation stand nicht in Köln, sondern in Magdeburg. Sich dort umzusehen, ist für uns alle ein großer Gewinn. Im Übrigen gibt es auch im Osten und im Westen zum Teil parallele Entwicklungen. Man denke an manche Schwierigkeiten in den ländlichen Gebieten. Andererseits gibt es große Fortschritte in ostdeutschen Städten. Man braucht nur Leipzig oder auch Jena zu nennen, um zu verstehen, was gemeint ist.

Es gibt bis heute sehr viele Menschen, die meinen, der Einigungsprozess wäre die Chance für einen gemeinsamen Neuanfang gewesen und diese Chance sei vertan worden. Nicht nur die DDR-Dissidenten wollten mehr als eine Eins-zu-eins-Übertragung des Westens auf den Osten.

Wir alle wissen, dass es in der Bürgerbewegung in der ehemaligen DDR mutige Kräfte gab, die zunächst und vor allem in ihrem eigenen Bereich Recht, Demokratie und Freiheit durchsetzen wollten, sich also nicht einfach nur anzupassen gedachten. Aber wir sind uns in den Grundlagen dessen, was verantwortete Freiheit und Solidarität erfordert, einig. Das gilt auch für unsere Rolle in Europa im Ganzen. Der Vereinigungsprozess benötigt den Zeitraum einer Generation. Zugleich aber haben wir gemeinsam unsere wichtige und erfolgreiche Rolle in Europa wahrzunehmen. Deshalb denke ich 20 Jahre nach dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 eben auch über die Grenzen unseres Vaterlandes hinaus. Am 1. Mai des Jahres 2004 hat sich die östliche Hälfte unseres Kontinents so weit es ging der Europäischen Union angeschlossen. Unser Verhältnis zu Polen und zu Tschechien hat sich von Grund auf gebessert. Das betrifft die ganze europäische Geschichte und die gestärkte Rolle Deutschlands auf der Basis der Vereinigung. Und das verspüren doch West- und Ostdeutsche gemeinsam.

Tun sie es tatsächlich? Hat die Einheit die Deutschen wirklich erreicht und ihnen einen Begriff davon vermittelt, was ihre Aufgaben sind, nach innen wie nach außen?

Wir arbeiten weiterhin voran auf dem Weg, wirklich zusammenzuwachsen. Wir haben dabei die in der Geschichte der deutschen Nation erstmalige Erfahrung, dass wir mit allen unseren Nachbarn nun seit 60 Jahren in Frieden leben. Das erfüllt uns mit Dankbarkeit und mit einer Verantwortung, der wir umso besser gewachsen sind, je mehr wir zur Solidarität innerhalb unserer eigenen deutschen Grenzen, zwischen Ost und West beitragen. Daran werden wir auch am 20. Jahrestag der Vereinigung, am 3. Oktober dieses Jahres, gemeinsam denken.

Die Fragen stellten Hermann Rudolph und Matthias Schlegel.

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