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Machtdemonstration der Schiiten. In Bagdad wird ein symbolischer Sarg für Imam Mussa al Kadhim durch die Straßen getragen. Im Norden von Iraks Hauptstadt steht das Mausoleum des siebten von zwölf schiitischen Imamen, der im Jahr 799 starb.

© AFP

Irak: Lähmung als Prinzip

Iraks Einheitsregierung behindert sich, wo sie kann – die Zahl der Toten durch Terroranschläge erreicht derweil neue Rekorde.

In der Kantine des Parlaments von Bagdad trafen die beiden Kontrahenten aufeinander. Der Abgeordnete Kamal Saadi hieb mit seinem Gehstock auf seinen Kollegen Haidar al Mulla ein, der schlug mit der Faust zurück, bis entsetzte Abgeordnete die beiden Kampfhähne trennten. Im Irak liegen die Nerven blank. Seit Monaten blockieren sich die politischen Lager in der Regierung der Nationalen Einheit unter Premier Nuri al Maliki. Der hatte mit seinem schiitischen Bündnis „Rechtsstaat“ die Wahlen im März 2010 zwar knapp verloren, blieb aber trotzdem Regierungschef. Als Ausgleich bot er seinem Hauptkontrahenten Iyad Allawi, der mit seiner Allianz Iraqiya die meisten Sunniten hinter sich weiß, wichtige Posten und politische Mitsprache in der Regierung der Nationalen Einheit an.

Doch aus dem übergreifenden Machtarrangement zum Wohle der irakischen Nation ist bisher nicht viel geworden. Die beiden Galionsfiguren reden seit Wochen nicht mehr miteinander, behindern sich gegenseitig, wo sie nur können. Allawi ist bisher nicht einmal im Parlament erschienen, stattdessen bezichtigte er in einer Fernsehrede Maliki, dieser sei „mit Hilfe des Iran und ausländischer Mächte“ Premierminister geworden. Auch die von Maliki in seiner Regierungserklärung groß angekündigte 100-Tage-Frist für den großen Sprung nach vorne ist unbemerkt verstrichen. Bis Mitte Juni wollte der Ministerpräsident durch Großinvestitionen die Basis legen für einen modernen Irak. Gleichzeitig versprach er den Bürgern eine spürbar bessere Versorgung mit Strom, Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten. Geschehen ist nichts. Selbst die beiden Schlüsselposten des Verteidigungs- und Innenministers sind auch 16 Monate nach den Parlamentswahlen immer noch nicht besetzt und werden von Maliki kommissarisch verwaltet. Allawi hat das Vorschlagsrecht, Maliki muss zustimmen, legte sich bisher aber bei allen Kandidaten quer.

Kein Wunder, dass angesichts dieser politischen Totallähmung die Gewalttaten im ganzen Land wieder steigen. Täglich gehen Bomben hoch oder gibt es Feuerüberfälle von Al-Qaida-Kommandos. Allein im Juni kamen 271 Iraker ums Leben, über 450 wurden verletzt – bisher die höchste Opferzahl in einem Monat des Jahres 2011. Manche Minister fahren nur noch in Konvois mit bis zu 50 Autos, andere unterhalten regelrechte Privatarmeen. So sprengten sich in der zentralirakischen Stadt Diwaniyah zwei Selbstmordattentäter dreißig Meter vor der Residenz des Gouverneurs in die Luft, 26 Menschen starben, die meisten von ihnen Leibwächter. Der Politiker selbst blieb unverletzt, weil sich seine Abfahrt um einige Minuten verzögert hatte. In einem Supermarkt im Süden von Bagdad explodierte ein Sprengsatz, der unter Gemüse in einem Einkaufswagen versteckt war – 21 Menschen verloren ihr Leben, 86 wurden verletzt. In der Provinz Diyala nahmen Bewaffnete in der Regionalverwaltung ein Dutzend Geiseln und lieferten sich ein fünfstündiges Feuergefecht mit Spezialeinheiten der Polizei. In der Provinz Anbar starben im Morgengrauen fünf Offiziere bei einem Überfall auf ihren Kontrollpunkt an der Autobahn nach Jordanien und Syrien.

Ähnlich ist die Lage bei der US-Armee, die in einem halben Jahr ihre restlichen 47 000 Mann abziehen will. Mit 14 Toten erlitt sie im Juni die höchsten Verluste seit Mitte 2008. Allein sechs Soldaten starben durch einen Raketenangriff schiitischer Milizen auf die wichtige US-Militärbasis nahe dem Flughafen von Bagdad. Die eingesetzten Geschosse stammen nach amerikanischen Ermittlungen aus dem Iran. Und so wachsen in Washington die Zweifel, ob die irakischen Sicherheitskräfte im kommenden Jahr der wachsenden Gewalt durch Al Qaida und schiitische Milizen gewachsen sein werden.

Seit Monaten drängen amerikanische Militärs bei der irakischen Führung auf eine Entscheidung, ob sie auch 2012 eine weitere US-Militärpräsenz im Zweistromland wünschen. Doch die total zerstrittene Regierung der Nationalen Einheit ist zu keiner Antwort fähig. „Länder wie der Irak mit schweren inneren Konflikten können immer wieder in einen Bürgerkrieg abrutschen“, warnt Kenneth M. Pollack, Wissenschaftler bei der renommierten „Brookings Institution“, einem Think Tank in Washington. Vor allem Fortschritte im politischen System seien nötig, um aus dieser Rollbahn in den Bürgerkrieg herauszukommen. Sonst würden die Bürger nur weiter frustriert und angestachelt, ihre Konflikte mit Waffen zu regeln, meint Pollack. In seinen Augen jedenfalls hat „die zunehmende Gewalt im Irak das Potenzial, diesen gefährlichen Mechanismus erneut in Gang zu setzen“.

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