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Der Kriminologie-Professor Alain Bauer lehrt am Conservatoire National des Arts et Métiers in Paris.

© AFP

Islamismus in Frankreich und Österreich: „Nicht naiv, sondern blind“

Der Kriminologe Alain Bauer sieht Unterschiede zwischen den jüngsten Terrorakten. Für dringlich hält er ein Vorgehen gegen „islamistischen Separatismus".

Der Pariser Kriminologie-Professor Alain Bauer beriet Politiker wie den früheren sozialistischen Premierminister Manuel Valls und den ehemaligen konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy in Fragen der Terrorbekämpfung. Nach den islamistischen Anschlägen in Wien und Frankreich lenkt er angesichts des Karikaturen-Streits den Blick darauf, dass weltweit in den meisten Fällen Muslime zu Opfern des islamistischen Terrors werden – und zwar in muslimisch geprägten Ländern, wo religionskritische Karikaturen gar nicht erlaubt sind.  Das Gespräch mit Bauer führte Albrecht Meier per Telefon. 

Herr Bauer, seit der erneuten Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen im Satiremagazin „Charlie Hebdo“ Anfang September hat es drei islamistische Anschläge in Frankreich gegeben - und jetzt auch in Wien. Wie akut ist die islamistische Terrorbedrohung in Europa? 

Es gibt zwar in jüngster Zeit vermehrt Anschläge, aber auch ein bekanntes Muster: Sobald im Westen ein Attentat verübt wird, kommt es häufig anschließend echoartig zu weiteren Terrorakten. Aber die Zahl der Opfer und der Anschläge spricht bislang nicht dafür, dass wir es mit einer außergewöhnlichen Entwicklung zu tun haben.  

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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat davon gesprochen, dass sich der Islam gegenwärtig in der Krise befinde. Hat er damit Muslime unnötig provoziert? 

Nach einem derart simplen Ursache-Wirkungs-Schema funktioniert das nicht. Macron hat gesagt, was er zu sagen hatte. Aber die Attentate haben keine direkte Verbindung zu den Erklärungen des französischen Staatschefs.  

Was treibt die Attentäter dann? 

Einige sind zur Tat geschritten, weil der Prozess um die mutmaßlichen Unterstützer während des Anschlags auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ vom Januar 2015 begonnen hat. Für andere war die neuerliche Veröffentlichung der Karikaturen der Anlass. Für wieder andere ist es das französische Engagement im Libyen-Konflikt. Und dann gibt es eine wieder andere Gruppe wie einige Frankreich lebende Türken, denen Frankreichs Unterstützung für Armenien ein Dorn im Auge ist.  

Sind die Morde in Wien Nachahmer-Taten der Terrorakte in Frankreich?  

Wohl eher nicht. Bereits im Dezember 2019 gab es in Wien bereits den Versuch eines Attentats, das ein Kommando mit drei Tschetschenen plante. Die Ermittlungen nach den Anschlägen von Wien werden jetzt einige Zeit brauchen. Bevor diese Untersuchungen nicht abgeschlossen sind, sollte man keine voreiligen Schlüsse ziehen.  

Legen die europäischen Staaten genug Solidarität an den Tag, wenn es um die gemeinsame Terrorbekämpfung geht?  

Die meisten großen Staaten in Europa sind im gemeinsamen Kampf gegen den Terror auf einer Linie. Natürlich schauen wir zunächst auf die Bedrohung in den eigenen Ländern. Man sollte das Problem aber auch im weltweiten Maßstab in den Blick nehmen: In den meisten Fällen sind es Muslime in muslimisch geprägten Ländern, die zu Opfern des islamistischen Terrors werden. In diesen Ländern gibt es keine Blasphemie und keine Karikaturen – und trotzdem kommt es dort zu Anschlägen.  

Sollte man der europäischen Staatsanwaltschaft, die soeben ihre Arbeit aufgenommen hat, auch eine Zuständigkeit bei der Terrorbekämpfung geben?  

Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Nicht alle Attentate haben einen grenzüberschreitenden Charakter. Es ist nicht so, dass sämtliche Anschläge von außen geplant werden. Wir brauchen sicherlich eine größere Koordinierung zwischen den EU-Staaten – insbesondere dann, wenn die Täter zwischen den Staaten hin- und hergereist sind. Aber ich habe gegenwärtig nicht den Eindruck, dass die europäische Staatsanwaltschaft bei der Terrorbekämpfung eine größere Wirksamkeit entfalten kann als nationale Behörden.  

Macron hat Anfang Oktober seinen Plan gegen den „islamistischen Separatismus“ vorgestellt. Der Präsident will unter anderem islamistische Indoktrination junger Menschen in Frankreich beenden und die Auslandsfinanzierung von Moscheen schärfer kontrollieren. Hat er Recht? 

Natürlich. Es geht darum, eine freie Glaubensausübung zu gewährleisten und gleichzeitig einer Manipulation aus dem Ausland zu begegnen. Das setzt aber auch voraus, dass sich der Staat in Frankreich in diesen Fragen stärker einmischt. Im Namen einer Pseudo-Neutralität ist der Staat in Frankreich lasch geworden, was die Regelung der Beziehungen zu den Religionsgemeinschaften anbelangt.  

War Frankreich zu lange naiv angesichts der Tatsache, dass einige Moscheen – wie etwa im Pariser Vorort Pantin im Fall des enthaupteten Lehrers Samuel Paty – Brutstätten des Extremismus sind? 

Frankreich war nicht naiv, sondern blind.  

Hat es Sie überrascht, dass sich Lehrer nach dem Attentat auf Paty über einige muslimische Eltern beklagten, die auf Tabuzonen bei der Unterrichtsgestaltung bestehen?  

Überhaupt nicht. Schon vor 16 Jahren habe ich in meinen Anmerkungen zu einem Parlamentsbericht über religiöse Symbole an Schulen darauf hingewiesen, dass die Religionsausübung kein Hindernis für die Vermittlung kultureller Werte sein darf. Die Laizität, also die in Frankreich seit 1905 geltende Trennung zwischen Kirche und Staat, ist kein Freibrief für Ignoranz. Sondern sie ist eine Verpflichtung zur Wissensvermittlung. 

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