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Island: Die Kriseninsel

Island blickt nach dem totalen Finanzkollaps auf ein bewegendes Jahr zurück – jetzt geht es um den Wiederaufbau.

Am Fuß des mehr als tausend Meter hohen Kaldbakur im Norden Islands, liegt der Friedhof von Grenivik. Mit ruhigen Worten beerdigt Pfarrer Kristijan Ingolsson seine 96 Jahre alt gewordene Schwägerin vor der fast vollzähligen, in winterlicher Kälte bibbernden Fischerdorfgemeinde. Sie habe ein langes und schönes Leben gelebt, sagt er. Bei der Gedenkfeier in der Turnhalle tauen die Trauergäste auf. Junge, Alte, Männer, Frauen, Kinder singen isländische Volkslieder. Mit Lebenslust. „Gar nicht traurig, die Lieder. Eigentlich richtig fröhlich. Traurigfröhlich“, sagt der Pfarrer. Island ist ein wenig wie seine Arbeit. „Wir sind in einer Zeit die zum Lächeln und zum Weinen ist.“

Die Wirtschaftskrise, die vor einem Jahr dem Reichtumsmärchen Islands ein Ende setzte, sei in der Provinz weniger zu spüren als in der Hauptstadt. „Der Zusammenhalt und die Wohlfahrt haben uns gut aufgefangen“, sagt er. Island sei so klein mit seinen 323 000 Bewohnern und so isoliert, dass fast alle, die in Not geraten sind, Verwandte oder Freunde haben, die mit Materiellem, vor allem aber mit menschlicher Wärme aushelfen würden. „Zu Weihnachten hat unser Hilfswerk unerwartet viele Spenden bekommen, von Isländern denen es noch ein bisschen besser geht. Sehr erfreulich. Ein gutes Zeichen“, sagt der Pfarrer.

Isländer hätten zudem schon immer eine für Krisenzeiten robuste Mentalität gehabt. Viel Solidarität und Sozialgewissen. Aber an die Stelle des „lähmenden Selbstmitleids“ anderer Sozialstaaten, finde sich eine mit Amerika vergleichbarer Optimismus und eigenverantwortlicher Arbeits- und Lebenseifer. Zumindest die Selbstmordrate auf der Insel sei seit der Krise nicht markant angestiegen, obwohl viele Haus, Jeep und Hof verloren haben. Das sei auch historisch bedingt, so der Pfarrer. „Heute müssen Familien, die ihre Kredite nicht zahlen können und ihre Arbeit verloren haben, zusehen noch ein paar Groschen für die Lebensmittel zu haben. Viele werden sich wohl nicht die zarten isländischen Schneehühner zum Weihnachtsschmaus leisten können. Aber es gibt Schlimmeres“, sagt er.

Man müsse gar nicht bis in die Wikingerzeit zurückblicken, um zu verstehen, dass sein Volk das Leiden und Entbehren auf der beeindruckend schönen aber lebensunfreundlichen Insel Island gewöhnt sei. Isländer lebten lange fast ausschließlich vom Meer. Es sei launischer als die anderswo grundlegende Landwirtschaft. „Noch vor weniger als 100 Jahren mussten junge Männer fischen gehen, und man wusste, dass nicht alle zurückkommen würden“, so der Pfarrer. Heute seien die Naturkräfte zwar bezwungen, aber der starke Geist und der Zusammenhalt lebe weiter in den Isländern. Weihnachten sei in diesem Jahr „vielleicht besinnlicher, mit mehr Nächstenliebe behaftet“, sagt Ingolsson. „Die Menschen ob nun gläubig oder wie viele eher nicht, nähern sich wieder tiefer greifenden Werten.“

Um die feine Einkaufsstraße Laugavegur herum, geht es geschäftig, aber ruhiger zu als in früheren Jahren. In den nahtlos bunt aneinander gereihten Geschäftsfassadenfronten klaffen überall grauleere Schaufensterlücken bankrotter Läden. Hjördis arbeitet in einem der besseren Kleidergeschäfte. „Früher kamen gestresste Ehefrauen rein, die teure Anzüge für ihre Geschäftsmänner auf den Tresen knallten. Wenn sie unsicher waren, ob blau oder schwarz, kauften sie beide. Jetzt überlegen sie fünfmal“, sagt sie.

Geschäftiger ist es im Arbeitsamt. Die Musikerin des Hauptstadtorchesters Melkorka Olafsdottir sitzt im vollen Wartezimmer. „Die haben die jüngsten Musiker zuerst rausgeschmissen“, sagt sie. In Island gebe es kein anderes Orchester für sie. Nun sucht sie im Ausland. Auch in Deutschland. Ihr gutherziger Gesichtsausruck, verfinstert sich nicht einmal bei der Frage nach den Schuldigen des Zusammenbruchs, die im kommenden Februar in einem Untersuchungsreport angeprangert werden sollen. „Die neureichen Isländer waren wie besoffene Teenager, die sich letztlich übergeben mussten“, sagt sie. Es sei schade, dass nun so viele gute Leute die Insel verlassen müssten. Das bestätigt auch Frank Friedriksson, vom Arbeitsamt. „Es gibt eine größere Auswanderungswelle, vor allem nach Norwegen“, sagt er. Auch von den rund 20 000 zumeist aus Polen kommenden Gastarbeitern haben tausende Island wieder verlassen. Seit McDonalds im November Island ganz verlassen hat, wird Pizza King in einer verborgenen Ecke der Hafnarstræti, von Einheimischen überlaufen. Der spanische Eigentümer freut sich. Pizzabäcker Christof aus dem ostpolnischen Siedlce ist froh, seinen Job behalten zu können. Aber seit dem Währungssturz vor einem Jahr will er sich nicht mal mehr einen freien Tag pro Woche gönnen, um noch genügend Geld heimschicken zu können.

Auch jüngere Isländer, denen der Zusammenbruch des reichen Islands gigantische Chancen genommen hat, geben sich überraschend gefasst, ob nun BWL-Studentin oder freier Künstler: Die Krise biete ihnen Chancen, Island neu und vor allem besser wiederaufzubauen. Olafur Ovvi Gudmundsson etwa zeigt stolz seine eigene, im Sommer gegründete Gallerie nahe dem ehemaligen Nachtklub Circus. Das Lokal ist heruntergekommen, aber der 27-Jährige renoviert selbst. „Ich zahle keine Miete. Eine solch feine Adresse im Zentrum wäre vor einem Jahr unerreichbar für mich gewesen “, sagt er.

„Reykjavik wird durch die Armut wieder einfallsreicher“, sagt sein Freund, Modedesigner Boas Kristjansson, der mit wenigen isländischen Kronen und viel Geschick seine Kollektion im Ausland vermarktet. Auch Musiker Ragnar Olafsson, sagt: „Trotz großer Schwierigkeiten zu beweisen, dass man gut ist, resultiert in überraschend guten Aufnahmen“. Der Schrifsteller Einar Gudmandsson veröffentlichte eine viel beachtete Abrechnung mit den Finanzelite seines Landes. „Wir haben jetzt mehr Offenheit und Solidarität. Das ist gut. Aber ich befürchte, dass die alte Machtelite dabei ist, Island wieder zurückzuerobern.“, sagt er.

Pfarrer Ingolsson ist zuversichtlicher. „Wir haben über ein Jahr in einer sehr sonderbaren und für Menschen außerhalb der Finanzwelt unverständlichen Zeit gelebt. Wir finden behutsam in die Normalität zurück“, sagt er und fügt lachend hinzu: „Als die Pest uns Isländer fast gänzlich ausgerottet hatte, wollte der dänische König die Überlebenden nach Jylland verschiffen. Wir weigerten uns und bauten alles wieder auf. Frohe Weihnachten!“

André Anwar[Reykjavik]

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