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Auch in Tel Aviv fanden Trauerfeiern für die Jugendlichen statt.

© AFP

Israel - Ermordete Jugendliche: Naftali Fraenkel kam nie bei seinen Eltern an

Er schickte eine SMS: Ich komme heim. Seine Mutter wartete vergeblich. Naftali Fraenkel kam nie an. Mit zwei Freunden wurde er entführt. Und ermordet. Während die Eltern noch trauern, sucht Israels Regierung Vergeltung.

Am frühen Montagabend stirbt Rachel Fraenkels Hoffnung. Sie weicht bitterer Gewissheit. Nach 18 Tagen des Wartens und Bangens, nach 17 Nächten, in denen sie ohne Schlaftabletten kaum zur Ruhe kam, ist klar: Ihr Sohn Naftali wird nicht mehr nach Hause kommen.

Am frühen Montagabend, zweieinhalb Wochen nach ihrer Entführung, finden israelische Einsatzkräfte die beiden 16-Jährigen Naftali Fraenkel und Gilad Shaer und den 19-jährigen Eyal Yifrach tot auf einem Feld nordwestlich von Hebron im Westjordanland. Begraben unter einem Steinhaufen.

Am frühen Dienstagmorgen bombardiert Israel den Gazastreifen. Es ist der schlimmste Luftangriff auf das Palästinensergebiet seit langem. Vergeltung, das hatten die Politiker im eilig einberufenen Sicherheitskabinett am Abend zuvor gefordert. Sie folgte in Form von „Präzisionsschlägen“ gegen 34 Ziele. Offiziell heißt es allerdings, dies sei eine Reaktion auf Raketen, die seit Sonntagabend aus dem Gazastreifen in Richtung Israel geflogen sind.

Zweieinhalb Wochen lang waren die drei Jugendlichen vermisst gewesen, sie galten als Opfer einer Entführung, radikal-islamische Palästinenser als Täter. Mit großem Aufgebot begann die israelische Armee, in jeder Höhle und jedem Haus rund um Hebron nach den dreien zu suchen – ohne Erfolg. Seit dem 12. Juni, dem Tag des Verschwindens, hat die Armee mehr als 420 Palästinenser festgenommen. Der Aufwand war so gewaltig, dass selbst in Israel einige fragten, ob ein Einsatz dieses Ausmaßes gerechtfertigt sei. Nun stellte sich heraus: Die drei Jugendlichen wurden offenbar bereits an jenem Donnerstagabend erschossen, an dem sie entführt worden waren.

18 Tage der Ungewissheit

Es war jene Nacht, in der Rachel und Avi Fraenkel das letzte Mal ruhig einschlafen konnten. Gegen halb zehn hatte Naftali Fraenkel seinen Eltern eine SMS geschrieben. Er werde noch in der Nacht von der Talmudschule heimkehren, nicht wie sonst erst am Freitagmorgen. „Wir haben geantwortet: ‚Großartig’, und sind dann früh ins Bett gegangen“, erinnerte sich Rachel Fraenkel vor wenigen Tagen. Da hoffte sie noch, man werde Naftali lebend finden. Die SMS war das letzte Lebenszeichen ihres Sohnes. Es folgten 18 Tage der Ungewissheit.

In dieser Zeit waren die Gesichter der drei Schüler überall im Land zu sehen. Im Fernsehen, auf den Titelseiten der Zeitungen, auf Plakaten. Die Menschen kannten sie plötzlich: Eyal, der gerne Sport macht und kocht. Gilad, ein Hobby-Bäcker, der Filme liebt. Naftali, der gerne Gitarre spielt und Basketball, ein guter Schüler und ein guter Junge, ernst und gleichzeitig lustig. Videoaufnahmen wurden veröffentlicht, auf denen zu sehen ist, wie Eyal bei einer Hochzeit singt und Gitarre spielt; wie Gilad zusammen mit anderen Jungen auf einem Feld eine Menschenpyramide baut; wie Naftali Tischtennis spielt.

Das Trampen ist gang und gäbe

Am Donnerstagabend vor zwei Wochen wollten die drei Jugendlichen übers Wochenende nach Hause trampen. Naftali und Gilad kamen aus ihren Talmudschulen in Kfar Etzion, Eyal aus Hebron. Ob es nicht leichtsinnig ist, im Westjordanland zu trampen? Das wurde auch in Israel in den vergangenen Tagen diskutiert. Immer wieder ist es schon zu Entführungen und Zwischenfällen gekommen. Dennoch ist es gang und gäbe. Viele Siedler ohne Auto und ohne Führerschein tun es aus ideologischen Gründen, weil sie sich auch in den besetzten Gebieten frei bewegen wollen. Die Kreuzung bei der Siedlung Gush Etzion, von der aus auch die drei Jugendlichen aufbrechen wollten, ist bekannt dafür, dass hier einige Siedler auf eine Mitfahrgelegenheit warten und andere ihre Autoscheiben runterlassen und fragen, wohin es gehen soll.

Die Eltern des getöteten Naftali, Rachel und Avi Fraenkel.
Die Eltern des getöteten Naftali, Rachel und Avi Fraenkel.

© Flash90

Rachel und Avi Fraenkel, 45 und 47 Jahre alt, wollten verantwortungsvolle Eltern sein, als ihr ältester Sohn, der heute 19 Jahre alt ist, vor einigen Jahren auf dieselbe Religionsschule kam. Er sollte nicht per Anhalter fahren, es sei zu gefährlich. Irgendwann gaben sie auf und sagten, er solle das machen, was alle anderen allein schon aufgrund der schlechten Busverbindungen auch tun. Beim jüngeren Naftali war es schließlich keine Frage mehr.

„Ich weiß, dass es schwer nachzuvollziehen ist, wenn man aus einer anderen Kultur kommt. Aber hier ist es einfach normal“, sagte Rachel Fraenkel vor wenigen Tagen während eines Telefonats. Am Tag zuvor ist sie aus Genf zurückgekommen. Gemeinsam mit den beiden Müttern der anderen Jungen hatte sie vor dem UN-Menschenrechtsrat um Hilfe gebeten. UN Watch, eine NGO, ermöglichte die Reise und einen zweiminütigen Auftritt vor dem Rat.

"Fürs Zusammenbrechen habe ich später noch Zeit"

So viele Menschen könnten noch so viel mehr tun, hatte sie in ihrer kurzen Rede gesagt. Sie bitte vor den UN und vor der Welt jeden, alles Mögliche zu tun, um „unsere Jungs“ zurückzubringen. Fotos aus Genf zeigen die drei Frauen in langen Röcken, Tücher locker um die Köpfe gewickelt, abgekämpft, aber auch entschlossen. Rachel Fraenkel macht den Eindruck, als würde sie alles tun, um ihren Sohn zurückzubekommen: „Wenn ich morgen in Washington sein muss, dann werde ich nach Washington fliegen.“

In der Öffentlichkeit wirkte sie stets stark und gefasst. „Ja, ich denke manchmal auch daran, dass es anders kommen könnte“, sagte Rachel Fraenkel. „Aber ich glaube fest daran, dass Naftali zurückkommt. All meine Energie konzentriert sich auf ein positives Ergebnis der Suche. Fürs Zusammenbrechen habe ich später noch Zeit.“

So erzählte sie ihre bittere Geschichte wieder und wieder. Wie es war, als sie in den frühen Morgenstunden von Sicherheitskräften geweckt wurden. Die Familie Shaer hatte ihren Sohn Gilad als vermisst gemeldet und die Polizei vermutete, dass Gilad eventuell mit Naftali nach Hause gefahren sein könnte. Beide kamen in dieser Nacht nicht heim. „Anfangs hatten wir noch gebetet, dass sie nur unvernünftig waren. Auch wenn ich wusste, dass mein Sohn verantwortungsvoll ist“, sagte Rachel Fraenkel. Dann wurde schnell klar, dass sie entführt wurden.

Ein Notruf: "Wir werden entführt!"

Kurz nachdem Naftali Fraenkel seinen Eltern per SMS geschrieben hatte, er komme nach Hause, ging bei der Polizei ein Notruf ein: „Wir werden entführt!“ Einer der Jugendlichen muss es geschafft haben zu telefonieren. Die Polizei versuchte vergeblich, zurückrufen und ging dann von einem Scherzanruf aus. Erst Stunden später, als die Shaers Gilad als vermisst meldeten, vermutete die Polizei einen Zusammenhang und informierte die Armee und den Geheimdienst.

Der gab auch die Namen der beiden mutmaßlichen Entführer bekannt. Marwan Kawasme, 29, und Omar Abu Ajschah, 33. Die beiden Hamas-Aktivisten seien zeitgleich mit den drei Jugendlichen verschwunden, hieß es. Was das Motiv der Entführung gewesen sein könnte, soll nun ermittelt werden. Laut dem Online-Magazin „Times of Israel“ vermuten Sicherheitsexperten, dass die beiden nur einen der drei Jugendlichen hatten mitnehmen wollen und die anderen beiden zu spät erkannten. Möglicherweise seien sie in Panik geraten, als sie in der Unterzahl waren und feststellten, dass einer der Jungen bei der Polizei anrief. Deshalb hätten sie die drei wohl bereits im Auto umgebracht, anstatt mit ihnen möglicherweise palästinensische Gefangene freizupressen.

Ein zynischer Wettbewerb des Leids

Die beiden mutmaßlichen Entführer sollen nun so schnell wie möglich gefunden werden, heißt es aus Armeekreisen. Noch in der Nacht zu Dienstag brachen Soldaten in die Häuser der beiden Verdächtigen ein. Eine der Haustüren wurde aufgesprengt, was gleich die ganze Wohnung in Brand setzte.

Die Hamas wiederum beschuldigt Israel, den Tod der drei Jugendlichen nun als Begründung für weitere Angriffe zu nutzen. Keine Organisation, auch nicht die Hamas, habe sich bislang zur Entführung und Ermordung bekannt.

Es ist eine nächste Runde im Nahostkonflikt, der schon Jahre andauert und längst ein zynischer Wettbewerb des Leids geworden ist. Immer wieder gibt es Tote. Auf beiden Seiten, die jeweils behaupten, das Opfer zu sein, sich verteidigen zu müssen, weil der andere angefangen hat. Und inmitten all dessen verlieren immer wieder palästinensische und israelische Eltern ihre Kinder. Der Krieg zerstört Familien.

Rachel Fraenkel, die als Lehrerin in Jerusalem arbeitet, hielt sich aus allen politischen Diskussionen raus. Sie las auch keine Zeitungen mehr. Sie wollte ihren Sohn zurück.

Vor dem Haus der Familie stehen Menschen - sie trauern und beten

Eine Fahrt nach Nof Ayalon, wo das Haus der Fraenkels steht, Tage bevor die Nachricht vom Tod der Jungen eintrifft. Etwa 3000 Menschen leben hier, die Männer tragen Kippa, die Frauen Tücher um die Köpfe oder einen Hut. Die meisten Familien sind jüdisch-orthodox, so wie die Fraenkels auch. Sie sind kinderreich, der Schabbat wird eingehalten, das heißt: kein Auto, keine elektrischen Geräte, kein Telefon. Nur für die Zeit von Naftalis Verschwinden haben Rachel und Avi Fraenkel eine Ausnahme gemacht.

Nof Ayalon liegt rund 30 Kilometer nordwestlich von Jerusalem, direkt auf der Grünen Linie, der Demarkationslinie zwischen Israel und den besetzten Gebieten. Das ist möglich, weil die Sicherheitsmauer nicht genau auf der Linie verläuft, Nof Ayalon liegt auf der israelischen Seite. Es ist ruhiger Ort, alles ist aufgeräumt und sauber, die Hecken sind frisch geschnitten, jedes Haus hat ein Gärtchen, die Straßenränder sind bepflanzt, die hölzernen Klettergerüste auf den Kinderspielplätzen sind bunt gestrichen. In der Straße der Familie Fraenkel hängt vor jedem Haus das gleiche kleine Holzschild, jeweils mit dem Familiennamen der Bewohner. Man kennt sich hier, man schaut nacheinander.

Die Mütter repräsentieren Leid und Angst

Polizisten bewachen das Haus der Fraenkels, Journalisten warten vor ihrer Haustür, unter einem Pavillon aus Stoff sitzen Thorastudenten beim gemeinsamen Studium. Fast alle Knesset-Abgeordneten besuchen die Fraenkels, von den linken, den rechten und den ultraorthodoxen Parteien. Viele müssen während der vergangenen zwei Wochen lange warten, um die Familie zu sehen. Es gibt eine Besucherliste, und Rachel Fraenkel übernimmt deren Organisation.

Nur für die Zeit, die sie in Genf verbringt, führt Avi Fraenkel, ein Mann mit Halbglatze und schlichtem Hemd, Anwalt von Beruf, die Gespräche. Zuvor hat er sich lieber im Hintergrund gehalten. Es ist die Aufgabe der Mütter, das Leid, die Angst und die Hoffnung zu repräsentieren. Avi sagt: „Die Rolle der Mutter ist eben doch eine andere, sie trägt das Kind schließlich neun Monate in sich.“ Er sitzt am großen Esszimmertisch der Familie, die kleine Tochter ist auch dabei. Zeit hat Avi Fraenkel keine, obwohl das Warten sein Leben bestimmt. Ein kurzes Gespräch, dann drängelt ein Sicherheitsmann mit Knopf im Ohr. Avi soll zum Sicherheitsbriefing, um über den neusten Stand der Ermittlungen aufgeklärt zu werden. Wie lang das dauern wird? Lange. Er steht auf und geht.

Sie steht am Grab ihres Sohnes und weint

Im Hause Fraenkel lagen Politik, Krisenbewältigung und Familienleben während der vergangenen zwei Wochen sehr eng beieinander. Vor allem die sechs Kinder brachten Normalität in diesen Ausnahmezustand, ihr Leben ging schließlich weiter, die älteren mussten zur Schule. Der Jüngste ist vier Jahre alt. Er, der ohnehin noch nicht genau verstand, was geschehen war, freute sich über die Menschenmenge vor dem Haus, ärgerte Journalisten, spielte mit den Bekannten der Familie aus dem Dorf, die vor dem Haus standen und aufpassten, dass nicht jeder einfach hineinlaufen konnte.

Rachel und Avi Fraenkel mussten – auch wenn ein Sohn fehlte – weiterhin für ihre Familie da sein. „Jeden Tag sitzen wir mindestens 20 Minuten gemeinsam beim Abendessen, nur die engste Familie“, hatte Rachel gesagt. „Wir versuchen, nicht über die Entführung zu reden, aber es kommt schon vor, dass jeder zweite Satz lautet: ‚Und wenn Naftali dann wieder da ist, dann…’.“

Am Montagabend, als die Nachricht vom Tod der Jugendlichen bekannt wird, sind vor dem Haus der Fraenkels wieder viele Menschen versammelt. Sie trauern und beten zusammen. Überall im Land finden spontane Trauerfeiern statt, Menschen treffen sich, singen und zünden Kerzen an.

Und während die Politik von Vergeltung spricht, von Rache und Verfolgung, wohnen am frühen Dienstagabend tausende Menschen der Beerdigung von Gilad Shaer, Eyal Yifrach und Naftali Fraenkel in der Nähe von Modi’in im Zentrum Israels bei. Rachel Fraenkel steht am Grab ihres Sohnes und weint. Im Süden des Landes schlagen währenddessen fünf Raketen aus dem Gaza-Streifen ein.

Am Mittwoch wurde die Leiche eines arabischen Jugendlichen in einem Wald bei Jerusalem gefunden. Wie der israelische Militärrundfunk berichtete, wurde der 17-Jährige am frühen Morgen in Ost-Jerusalem in ein Auto gezwungen. Einige Stunden später sei seine Leiche in einem anderen Stadtteil entdeckt worden. Man vermutet, dass er von rechtsgerichteten Israelis ermordet wurde.

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