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Israelischer Soldat mit Kriegsgerät.

© Reuters

Israel und die Hamas: Gaza und die Deutungshoheit: Wer ist hier der Kriegsverbrecher?

Israelis und Palästinenser bezichtigen sich gegenseitig der Kriegsverbrechen. Das ist ein Begriff aus dem Völkerrecht. Wie lässt es sich im Nahost-Konflikt anwenden?

Die rasch wachsende Zahl ziviler Opfer im Gazakrieg und die Nachrichten vom Beschuss von Moscheen, Schulen, Krankenhäusern sowie dem einzigen Kraftwerk in Gaza haben weltweit Betroffenheit ausgelöst. Israel und die Hamas beschuldigen sich gegenseitig, Kriegsverbrechen zu begehen und die Verantwortung für die hohe Zahl ziviler Opfer zu tragen.

Was sagt das Völkerrecht über das Selbstverteidigungsrecht, den Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegen und wie definiert es Kriegsverbrechen?

Wer angegriffen wird, hat das Recht sich zu verteidigen. „Dieses Selbstverteidigungsrecht muss jedoch unter Beachtung des humanitären Völkerrechts ausgeübt werden“, sagt Georg Nolte, Professor für Völkerrecht an der Humboldt-Universität. Die zentrale Grundlage sind die Genfer Konventionen. Kriegsverbrechen sind schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen, so wie sie auch in Artikel 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs umschrieben sind. Als Beispiele werden dort genannt: vorsätzliche Tötung, Folter, vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung und auf zivile Objekte, die nicht militärische Ziele sind.

Welche Sorgfaltspflichten haben kriegsführende Parteien, um die Zivilbevölkerung zu schonen?

Bei der Anwendung der völkerrechtlichen Grundsätze auf eine konkrete Kriegshandlung kommt es auf die genauen Umstände an, sagt Georg Nolte, auf die militärtechnischen Möglichkeiten, die einer Partei zur Verfügung stehen, und auf die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel. „Eine Partei muss militärische Ziele so genau wie möglich bekämpfen und wie dies mit ihren Waffen möglich ist.“ Israel hat andere militärtechnische Möglichkeiten als die Hamas.

Was daraus für die Frage folgt, was rechtlich im konkreten Fall erlaubt ist, muss für jeden einzelnen Schuss geprüft werden. In früheren Gazakriegen sind umstrittene Militäraktionen im Nachhinein international überprüft worden. In manchen Fällen wurden einzelne Kriegshandlungen als legal bewertet, in anderen nicht. Der Teufel steckt im Detail.

Wie ist der Beschuss israelischer Städte und Gemeinden mit Raketen zu bewerten?

Zum Kern des humanitären Völkerrechts gehört das Verbot des gezielten Angriffes der Zivilbevölkerung, erklärt Matthias Herdegen, Professor für Völkerrecht an der Universität Bonn. Verboten sind dabei auch „unterschiedslose Angriffe“, die sich nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel richten oder richten können. Hierunter fällt der Raketenbeschuss von Städten und anderen Siedlungen, der allein die Zivilbevölkerung schädigen und in Schrecken versetzen soll.

Georg Nolte sagt: Wer Raketen auf bewohntes Gebiet abschießt, ohne auf ein militärisches Objekt zu zielen, und dabei Zivilisten trifft, begeht ein Kriegsverbrechen.

Schwierige Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen

Unter welchen Umständen können zivile Ziele als legitime militärische Ziele gelten?

Infrastruktur wie zum Beispiel Rollfelder und Brücken sowie Einrichtungen der Energieversorgung können ein militärisches Ziel darstellen, erläutert Matthias Herdegen, wenn sie aufgrund ihrer Zweckbestimmung oder Verwendung einen militärischen Nutzen haben und ihre Zerstörung einen klaren militärischen Vorteil verschafft. Anlagen der Trinkwasserversorgung oder sonstige für die Zivilbevölkerung lebensnotwendige Objekte dürfen grundsätzlich nicht angegriffen werden. Die Nato hat im Kosovo-Konflikt auch Brücken und Sendeanlagen angegriffen.

Sind „Kollateralschäden“ an Zivilisten bei der Bekämpfung militärischer Ziele hinzunehmen?

Es kommt auf die Verhältnismäßigkeit an, betont Matthias Herdegen. Verluste an Leib, Leben und Eigentum unter der Zivilbevölkerung lasse das humanitäre Völkerrecht zu, sofern dies „unbeabsichtigte Nebenfolge eines Angriffes auf ein militärisches Ziel“ ist und soweit nicht die Schäden in keinem Verhältnis zum militärischem Vorteil stehen. Dabei sei die Perspektive eines „vernünftigen Kommandeurs“ maßgeblich, der zu einer Abwägung militärischer und humanitärer Belange willens und fähig ist. Hier besteht ein beachtlicher Beurteilungsspielraum.

Nolte sagt: Wenn eine Partei ein Gebäude angreift, in dessen Keller zwei oder drei Kassam-Raketen gelagert werden, aber weiß, dass sich in dem Gebäude 200 Kinder aufhalten, ist das unverhältnismäßig. Andererseits ist der Umstand, dass sich einzelne Zivilisten in einem militärischen Objekt befinden, für sich genommen kein Grund, dass man es nicht beschießen darf.

Wie unterscheidet man zwischen militärischen und zivilen Zielen?

Mit Blick auf ein dicht besiedeltes Konfliktgebiet wie den Gazastreifen sagt Matthias Herdegen: Je mehr eine Konfliktpartei aus Wohngebieten und sonst aus der Deckung in der Zivilbevölkerung heraus operiert desto eher wird das Völkerrecht gewisse „Kollateralschäden“ hinnehmen.

Auf der anderen Seite muss eine Konfliktpartei darauf achten, dass bei Planung und Durchführung militärischer Handlungen die Zivilbevölkerung möglichst geschont wird. Dazu gehört auch der Einsatz von möglichen Aufklärungsmöglichkeiten.

Warnsignale (show of force) sind wichtige Maßnahmen zur Minimierung von Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung. Der Einsatz von Drohnen mit der Möglichkeit sofortiger Rückkoppelung gewonnener Informationen an die Einsatzstelle kann insoweit eher dem Gebot eines schonenden Angriffes dienen als der Einsatz konventioneller Waffen. Insoweit führt die Verfügbarkeit bestimmter Hochtechnologien praktisch zu einer gesteigerten Verantwortung und damit zu gewissen Asymmetrien unter den Konfliktparteien.

Was sagt das Völkerrecht zu „menschlichen Schutzschilden“?

Eine Kriegspartei darf keine Zivilisten zwingen, in der Nähe militärischer Ziele zu bleiben, sagt Georg Nolte. Wenn es aber zu solchen Situationen kommt, kommt es auf die Verhältnismäßigkeit an.

Die verschiedenen Gremien der Vereinten Nationen sind über die Israel-Frage zerstritten

Was kann die internationale Gemeinschaft tun?

Die Pflicht zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts haben zuerst die Konfliktparteien. Aber auch die internationale Gemeinschaft hat eine Verantwortung. In einer Erklärung seines Präsidenten hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Beschuss einer UN-Schule und des Kraftwerkes von Gaza durch Israel verurteilt und die unverhältnismäßig hohe Zahl von über tausend zivilen Opfern der israelischen Militäroffensive als inakzeptabel bezeichnet. Die USA haben kein Veto dagegen eingelegt. Georg Nolte sieht darin auch ein politisches Signal der USA an Israel.

Wie verlaufen die Konfliktlinien innerhalb der Vereinten Nationen?

Im Gazakonflikt liegen die Gremien und Führungspersönlichkeiten der Vereinten Nationen nicht auf einer Linie. Allerdings verstärkt sich die Tendenz, Israel zu kritisieren, je länger der Konflikt andauert.

Nach einem Angriff der israelischen Armee auf eine Schule der Vereinten Nationen erklärte der Chef des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), Pierre Krähenbühl: „Das ist ein Affront gegen uns alle, eine Quelle universeller Scham.“ Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon und die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, prangern immer öfter die Attacken der Israelis gegen zivile Einrichtungen offen an. Vor allem die Angriffe auf Kinder seien „abscheulich“, sagt Pillay. Allerdings kritisieren Ban und Pillay ebenso das palästinensische Raketenfeuer auf Wohngebiete in Israel. Beide Seiten, erklärt die Juristin Pillay, machten sich wahrscheinlich der „Kriegsverbrechen“ schuldig.

Einen schweren Stand haben die Israelis traditionell in der UN-Vollversammlung und im UN-Menschenrechtsrat. Die Vollversammlung erkennt Palästina seit 2012 als Staat an – gegen den erbitterten Widerstand der Regierung Netanjahu. Und vorige Woche verurteilte der Menschenrechtsrat in „schärfster Form die weitverbreiteten, systematischen und schwerwiegenden Verletzungen der Menschenrechte“ durch das israelische Militär. Es folgte eine lange Liste mit den Missetaten der Israelis. Die Raketenangriffe der Hamas auf Israel hingegen verurteilte man nur beiläufig. Von den 47 Mitgliedsländern des Gremiums stimmten allein die USA gegen die Resolution.

Auf die USA können sich die Israelis auch im UN-Sicherheitsrat verlassen. Washington blockiert im mächtigsten UN-Gremium mit seinem Veto alle Resolutionen, die zu israelkritisch ausfallen. Montagfrüh stimmten die Amerikaner im Sicherheitsrat einer Erklärung zu, die von Israelis und Palästinensern eine „sofortige und bedingungslose“ Waffenruhe verlangt. Doch weder Israelis noch Palästinenser scherten sich um den Appell

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