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Politik: Israel vor Gericht

In Istanbul beginnt ein Prozess wegen des Angriffes auf das Schiff „Mavi Marmara“.

Istanbul - In der türkischen Metropole Istanbul beginnt an diesem Dienstag ein Prozess ohne Angeklagte – aber mit potenziell weitreichender politischer Tragweite. Es geht um den Tod von neun Aktivisten beim israelischen Angriff auf das Schiff „Mavi Marmara“, das 2010 auf dem Weg nach Gaza war.

Die Beschuldigten, der ehemalige Generalstabschef Israels sowie weitere hochrangige Offiziere der israelischen Armee, werden nicht im Gerichtssaal erscheinen. Ein Schuldspruch bliebe für sie ohne konkrekte Folgen, doch politisch könnte der Prozess die ohnehin schwierige Wiederannäherung der Türkei und Israels noch komplizierter machen: „Israel steht vor Gericht“, erklärte die islamische Hilfsorganisation IHH, die Eignerin der „Mavi Marmara“.

In den frühen Morgenstunden des 31. Mai 2010 stürmten israelische Soldaten die „Mavi Marmara“ in internationalen Gewässern im östlichen Mittelmeer, um die Lieferung von Hilfsgütern in den von Israel abgeriegelten Gazastreifen zu verhindern. Bei der Aktion kamen neun Aktivisten an Bord des Schiffes ums Leben. Die Türkei verwies darauf den israelischen Botschafter des Landes und fuhr die Beziehungen auf ein Minimum herunter.

Zudem verlangt die Türkei Entschädigungszahlungen für die Familien der Opfer, eine offizielle Entschuldigung und eine Aufhebung der Gaza-Blockade. Israel lehnt die Forderungen ab und argumentiert, die Fahrt der „Mavi Marmara“ sei der aggressive Akt einer islamistischen Organisation gewesen.

Im Frühjahr erhob die Istanbuler Staatsanwaltschaft Anklage gegen vier israelische Offiziere; darunter sind Gavriel Ashkenazi, der israelische Generalstabschef zur Zeit des Angriffes, sowie der ehemalige Marinechef Eliezer Marom. Die Anklage fordert lebenslange Haftstrafen für die offiziell als „flüchtige Angeklagte“ titulierten Offiziere, die bei Reisen in die Türkei mit der Verhaftung rechnen müssten. Fast 500 IHH-Aktivisten treten in dem Prozess als Nebenkläger auf. Neben dem Strafprozess soll es demnächst auch zivilrechtliche Verfahren geben – IHH-Anwälte rechnen mit bis zu 400 Prozessen.

Dabei hatte Israel in den vergangenen Wochen versöhnliche Signale an die Türkei gesandt. Pinhas Avivi, Politischer Direktor im israelischen Außenamt, rief Ankara zu Gesprächen auf. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu berichtete kürzlich, jeder seiner internationalen Gesprächspartner überbringe derzeit eine Botschaft der Versöhnung von Israel. Die türkische Regierung braucht aber zumindest eine offizielle Entschuldigung, damit sie einen Neubeginn innenpolitisch rechtfertigen kann. Vor den israelischen Wahlen im Januar erwartet das niemand.

Laut IHH bot Israel den Familien der Opfer Geld, wenn sich diese aus dem Prozess zurückziehen. Dieses „unmoralische Angebot“ sei zurückgewiesen worden. Türkische Antisemiten fühlen sich ermutigt. „Die Juden sind unsere größten Feinde“, sagte ein Redner bei einer Protestveranstaltung gegen den Angriff auf die „Mavi Marmara“ im südosttürkischen Gaziantep im Frühjahr: Worte seien als Reaktion auf den Angriff nicht genug – man müsse mit Gewalt antworten. Susanne Güsten

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