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Israelischer Angriff: "Wir werden angegriffen, sie schießen die ganze Zeit"

Mindestens zehn Menschen sterben an Bord der "Mavi Marmara", die meisten sind Türken: Das Bündnis Türkei-Israel könnte nach Angriff auf Schiffe für Gaza zerbrechen.

Als die Soldaten aus der Dunkelheit auftauchen, greifen die türkischen Akvisten an Bord des Schiffes "Mavi Marmara" zum Mikrofon. "Wir werden angegriffen", ruft ein Mann, der von dem Schiff aus im türkischen Fernsehen über die Kommandoaktion der israelischen Armee berichtet. Im Hintergrund sind Schüsse zu hören. "Auseinander!" ruft der Mann den Umstehenden zu. "Sie schießen die ganze Zeit." Der israelische Angriff stellt alle bisherigen Krisen zwischen der Türkei und Israel in den Schatten und könnte das historische Bündnis der beiden Staaten endgültig zerbrechen lassen.

Mindestens zehn Menschen sterben an Bord der "Mavi Marmara", die meisten sind Türken. Das Schiff mit rund 600 Menschen an Bord führt einen Zug von fünf Frachtern mit insgesamt 10.000 Tonnen Hilfsgütern für die durch eine israelische Blockade isolierten Menschen in Gaza an: Generatoren, Baumaterial, Geräte für Kinderspielplätze seien an Bord, erklärt die islamische Hilfsorganisation IHH in Istanbul, die den Transport leitet.

In der Türkei ist die Notlage der Menschen im Gaza-Streifen bereits lange ein Topthema. Insbesondere islamische Organisationen sammeln immer wieder Geld für Hilfsgüter. Viele Türken betrachten die Lage in Gaza als klares Beispiel für die Heuchelei des Westens: Israel hält die Menschen in Gaza in einer Art "Freliftgefängnis", wie es türkische Politiker nennen - doch der sonst bei Menschenrechtsfragen angeblich so sensible Westen lässt die Israelis gewähren. Mehr als die Hälfte der Aktivisten auf der "Mavi Marmara" sind Türken, andere kommen aus Europa oder dem Nahen Osten. Auch aus Deutschland sind drei Passagiere an Bord.

Die dramatischen Szenen kurz vor Morgengrauen auf dem Meer vor der israelischen Küste treiben im fernen Istanbul sofort hunderte von Demonstranten auf die Straßen. Sie versuchen, das israelische Generalkonsulat zu stürmen, die Polizei muss sie mit Wasserwerfern und Reizgas zurückschlagen.

Gegen Mittag ist die Menge auf mehrere zehntausend Menschen angeschwollen, die sich mit palästinensischen Fahnen auf dem zentralen Taksim-Platz in der türkischen Metropole versammeln. "Nieder mit Israel", rufen sie. "Auge um Auge, Zahn um Zahn - Rache, Rache", wird skandiert. Plakate lassen die "internationale Intifada" hochleben. Viele Frauen in islamischen Kopftüchern marschieren mit, aber auch Geschäftsleute in Anzügen. Am Rand der Demonstration beglückwünschen Autofahrer die Demonstranten.

Die Reaktionen bleiben nicht auf die Straßen beschränkt. Der israelische Botschafter Gaby Levy wird ins türkische Außenamt einbestellt. Das türkische Außenministerium warnt Israel vor "irreperablen Schäden" für die Beziehungen. Murat Mercan, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im türkischen Parlament, spricht von einem Akt der "Piraterie". Israel habe gezeigt, dass es keinen Frieden wolle, erklärte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Er sprach von israelischem "Staatsterror".

In Ankara wirft die Krise den politischen Alltag über den Haufen. Erdogan bricht eine Südamerika-Reise ab, sein Stellvertreter Bülent Arinc trommelt Minister und Militärs zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Das Treffen beschließt, den türkischen Botschafter aus Israel abzuberufen und mehrere Militärmanöver mit den Israelis abzusagen. Bei der UNO in New York fordert die Türkei eine Sondersitzung des Sicherheitsrates. Arinc sagt, der israelische Angriff werde als "dunkler Fleck auf der Geschichte der Menschheit haften bleiben".

Auch die mittelfristigen Konsequenzen der Krise für die Türkei, Israel und die gesamte Region werden weitreichend sein. "Die schwerste Krise überhaupt" zwischen Israel und der Türkei spiele sich ab, sagt der Ex-Außenminister Ilter Türkmen im türkischen Fernsehen. Das historische Bündnis zwischen der muslimischen Republik Türkei und dem jüdischen Staat Israel könnte endgültig zerbrechen. Die Türkei könnte sich noch mehr als bisher Staaten wie Syrien und Iran annähern - ohne das bisherige Gegengewicht ihrer Partnerschaft mit Israel.

Trotz aller zwischenzeitlichen Spannungen fühlten sich Türken und Israelis lange Zeit durch ihre Gemeinsamkeiten verbunden: Beide Staaten sind enge Partner der USA, beide verfügen über sehr starke Streitkräfte, beide sind säkuläre Demokratien nach westlichem Muster, und das in einer Weltgegend, in der dieses Modell nicht gerade weit verbreitet ist. Unter türkischer Vermittlung führte Israel sogar indirekte Friedensgespräche mit Syrien über die Zukunft der Golan-Höhen.

Doch spätestens seit dem israelischen Angriff auf die Gaza-Schiffe ist es vorbei mit diesen Gemeinsamkeiten. In den vergangenen Jahren hatte sich bereits angedeutet, dass das neue türkische Selbstbewusstsein - Ankara betrachtet sich selbst als regionale Ordnungsmacht - mit den Interessen des alten Verbündeten Israels kollidiert. Nach dem Angriff der Israelis auf den Gaza-Streifen Anfang des vergangenen Jahres sorgte Erdogan mit scharfer Kritik an Israel für Aufsehen; die israelisch-syrischen Gespräche wurden gestoppt.

Aus Sicht Ankaras rutschten die Israelis immer mehr in einen jüdischen Radikalismus ab, insbesondere nach dem Regierungswechsel im vergangenen Jahr. So bemühten sich die Türken mehrmals darum, die indirekten Friedensgespräche zwischen Israel und Syrien wieder in Gang zu bringen. Doch die Netanjahu-Regierung winkte ab. "Unter der derzeitigen israelischen Regierung wird sich überhaupt nichts tun", sagte ein hochrangiger türkischer Diplomat kürzlich. Seit Montag ist das ohnehin erst einmal ausgeschlossen.

Wenn sich die erste Wut gelegt hat, wird die Türkei aber möglicherweise erkennen, dass sie starke Beziehungen zu Israel braucht: Ohne ihr besonderes Verhältnis zum jüdischen Staat kann die Türkei nicht die Rolle eines Akteurs in Anspruch nehmen, der bei allen Beteiligten im Nahost-Konflikt Gehör findet.

Zudem muss die türkische Regierung darauf achten, dass die anti-israelischen Proteste nicht aus dem Ruder laufen, warnt Ex-Minister Türkmen. Ein wachsender Anti-Semitismus oder gar Gewalt gegen israelische Diplomaten oder Mitglieder der kleinen jüdischen Gemeinde in der Türkei wären bei allem Verständnis für die derzeitige Kritik an Israel eine neue Katastrophe, sagt er: "Dann schlägt Recht in Unrecht um."

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