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Ein Palästinenser während eines Protests gegen israelische Siedlungen in der Westbank.

© Majdi Mohammed/ dpa

Israel will Teile der Palästinensergebiete annektieren: Deutschland muss endlich den Mund aufmachen

Netanjahus Pläne gefährden die Sicherheit Israels. Deutschland hat diese zur Staatsraison erhoben. Es muss jetzt handeln. Ein Gastkommentar

Shimon Stein war Israels Botschafter in Deutschland (2001-2007) und ist zur Zeit Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheit Studien (INSS) an der Universität Tel Aviv. Moshe Zimmermann ist Professor emeritus an der Hebräischen Universität Jerusalem

In der letzten Januarwoche behauptete Donald Trump, das Coronavirus „unter Kontrolle zu haben“. So nahm er sich die Zeit, am 28. Januar im Weißen Haus feierlich das „Jahrhundertprogramm“ zu verkünden, das dem israelisch-palästinensischen Konflikt ein Ende setzen soll.

Seitdem hat Trump die Kontrolle nicht nur über die Pandemie verloren, er hat mit seinem „Jahrhundertprogramm“ eine Schleuse geöffnet, die sehr bald im Nahen Osten eine unkontrollierbare Dynamik entfesseln könnte.

Israels alter und neuer Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat ein Element aus dem Programm aufgegriffen, nämlich die Zustimmung Trumps zur Annexion der Siedlungen, die Israel in den seit 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebieten gebaut hat.

Laut Koalitionsvertrag der neuen Regierung soll die Annexion ab dem 1. Juli in Angriff genommen werden. Verteidigungsminister Benny Gantz, nun Netanjahus Komplize, wies bereits das Militär an, sich auf die mögliche Annexion vorzubereiten.

Der Splint der Handgranate ist bereits gezogen

Um die Bildsprache zu benutzen, die man im Nahen Osten versteht: Der Splint der Handgranate ist bereits gezogen.

Netanjahu, der diesen Schritt für sein politisches Vermächtnis hält, will das Zeitfenster bis zu den US-Wahlen im November nutzen, um von Trumps Rückendeckung zu profitieren; zudem will er das schwindende Interesse der arabischen Nachbarn am israelisch-palästinensischen Konflikt nutzen.

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Angesichts der globalen Krisen, von Corona bis zum immer härter geführten Wettbewerb zwischen den USA und China, erwartet der israelische Premier nur verhaltene Reaktionen Chinas, Russlands und der EU. Netanjahu glaubt daher, freie Hand zu haben.

Nun geht es diesmal nicht, wie üblich, „nur“ um den Ausbau einer Siedlung auf palästinensischem Gebiet, sondern um einen „game changer“, um die Frage der Souveränität.

Daher stellt sich die Frage: Gefährdet der Plan Israels nationale Interessen und in mancherlei Hinsicht auch deutsche Interessen? Und an Deutschland richtet sich die Frage, ob dieser Bruch des Internationalen Völkerrechts nicht mehr als das übliche Lippenbekenntnis zur „Zwei-Staaten-Lösung“ erfordert?

Die Annexionspläne gefährden Israels Sicherheit

Es kann nicht in Israels Interesse liegen, den Grundprinzipien des internationalen Rechts zu trotzen, einen gewaltsamen Widerstand der Palästinenser zu entfesseln, den Mechanismus der Sicherheitszusammenarbeit mit der Autonomiebehörde auszuschalten, den Nachbarstaat Jordanien – mit dem Israel seit 25 Jahren einen Friedensvertrag hat– zu provozieren, die Beziehungen zu Ägypten zu belasten, die Kontakte zu den gemäßigten sunnitischen Golfstaaten und zu den Staaten, die sich bislang um ein Kompromiss mit Israel bemüht hatten, zu erschweren und weltweit auf viel mehr Ablehnung als Beifall zu stoßen. So unterminiert man seine eigene Sicherheit.

Die Annexion von jüdischen „Inseln“ innerhalb des palästinensischen Autonomiegebietes – sie machen etwa 30 Prozent der Westbank aus– schafft Israel auch militärisch und ökonomisch mehr Probleme als Lösungen.

Deutschland darf nicht tatenlos zuschauen

Da mit diesem „game changer“ die wahren Interessen Israels, sprich: Israels Sicherheit und Existenz sowie sein demokratischer und jüdischer Charakter auf dem Spiel stehen, darf Deutschland eben wegen seiner besonderen Verantwortung gegenüber Israel nicht tatenlos zuschauen.

Nun ist der Pawlowsche Reflex der deutschen Politik auf derartige Herausforderungen bekannt: Eine Stellungnahme gegen die offizielle israelische Politik wird automatisch als „Israel-Kritik“, ja als Ausdruck des Antisemitismus bewertet – soll also vermieden werden.

Belastet von der Hypothek der Shoah, wird stets beteuert, Deutschland müsse der israelischen Politik zustimmen. Und in Fällen, in denen Deutschland doch seine Unzufriedenheit vorsichtig zum Ausdruck bringen möchte, geschieht dies höchstens unter dem Schutzschirm der EU.

Antisemitismusvorwürfe als perfides Einschüchterungsmanöver

Angesichts des Versuchs, die israelische Souveränität auf Teile der Westbank auszudehnen, muss Deutschland die passive „Weiter so“-Haltung aufgeben. Denn die von Trump unterstützte Initiative ist mehr als nur eine eklatante Verletzung des internationalen Rechts. Sie gefährdet Israels Sicherheit und Israels Demokratie.

Zudem kann sich Deutschland nicht hinter einer gemeinsamen EU-Fassade verstecken: Will es etwa die Haltung der Visegrad-Staaten übernehmen, die Netanjahus Politik automatisch gutheißen?

Es steht in diesem Fall außer Frage, dass zu erwartende Antisemitismus-Vorwürfe bloß ein perfides Mittel sind, um die Gegner des Manövers einzuschüchtern.

Da Israels Existenz und Sicherheit bekanntlich zur deutschen Staatsräson aufgewertet wurden, bedeutet der Widerspruch zwischen der Annexionsabsicht und den Interessen Israels ipso facto auch einen Widerspruch zu Deutschlands Staatsräson.

Berlin kann kein Interesse daran haben, die Zwei-Staaten-Lösung zu begraben. Auch die Destabilisierung Jordaniens ist bestimmt nicht im Interesse Deutschlands. Um noch konkreter zu sein: Eine – wenn auch nur passive – Zustimmung zur Annexion des Jordantals und/oder der Siedlungen im palästinensischen Gebiet wird die europäische und deutsche Russland-Politik seit der Krim-Annexion in Frage stellen, wenn nicht unterwandern.

Israel würde ein Apartheids-Regime errichten

Auf dem Spiel steht noch viel mehr: Diese Annexion bestätigt, dass Israel nicht davor zurückschreckt, ein Apartheids-Regime zu errichten. Denn die Palästinenser, die in den zu annektierenden Gebieten leben, haben keine Aussicht auf die israelische Staatsbürgerschaft, also auf Bürgerrechte.

Der jüdische Staat entfernt sich somit noch weiter von den Grundregeln der Demokratie. Darf die Bundesrepublik dies durch Passivität gutheißen?

Wenn Deutschland sich tatsächlich für die Sicherheit und Existenz Israels als demokratischer und – demographisch betrachtet – auch jüdischer Staat verantwortlich fühlt, wäre ein Übergang zur Tagesordnung unverantwortlich.

Berlin sollte die Palästinenser zu einem Gegenplan ermutigen, der Gegenstand von Verhandlungen wird

Deutschland muss nicht nur Netanjahu vor dem 1. Juli eine unmissverständliche Botschaft überbringen, sondern auch die Initiative ergreifen. Die könnte bedeuten, den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas aufzufordern, mit Hilfe des sogenannten arabischen Quartetts (Ägypten, Jordanien, die Emirate und Saudi Arabien) einen Gegenplan zum „Jahrhundertplan“ vorzulegen, um die Palästinenser aus der Abseitsposition zu holen, in die sie sich seit 2014 hineinmanövriert haben.

Deutschlands Verantwortung vor dem stets beschworenen historischen Hintergrund bedeutet, nicht zu- oder wegschauen, sondern sich als „ehrlicher Makler“ für die Sicherheit, die Demokratie, die Menschenrechte und das Recht auf nationale Selbstbestimmung für beide Völker in zwei Staaten einzusetzen.

Es gibt Momente in den deutsch-israelischen Beziehungen, in denen man Farbe bekennen muss, weil es um Israels Zukunft geht. Jetzt ist ein solcher Moment.

Von Shimon Stein, Moshe Zimmermann

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