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Politik: Ist die Union noch zu retten, Herr Geißler?

Herr Geißler, worin zeigt sich die Seele der Christlich Demokratischen Union?Der jetzige seelische Zustand ist reformbedürftig.

Herr Geißler, worin zeigt sich die Seele der Christlich Demokratischen Union?

Der jetzige seelische Zustand ist reformbedürftig. Gemessen an dem im Grundsatzprogramm beschriebenen Fundament der CDU: dem christlichen Menschenbild und den daraus zu ziehenden Konsequenzen.

Ist der Zustand, um im Bild zu bleiben, also eher klinisch interessant?

Ja. Aber ich drücke es mal sportlich aus: Die Messlatte dieses Anspruchs liegt sehr hoch und wird relativ häufig gerissen.

Gibt es in der CDU noch eine Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes?

Die gibt es zum Beispiel in einer ganz entscheidenden Frage, nämlich in der Friedenspolitik. Das wird Sie wundern, aber die CDU hat in der Frage des Bundeswehreinsatzes von der grundsätzlichen Seite her eine klare Haltung. Die CDU ist eben nicht wie die Grünen dem Irrtum erlegen, dass Friede ein oberster Grundwert sei. Schalom, der biblische Begriff, heißt Güte und Gerechtigkeit, beides zusammen. Frieden ohne Gerechtigkeit gibt es nicht. Friede ist ein Zustand, der dann erreicht wird, wenn die wirklichen Grundwerte gelten, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das gilt bei der CDU.

Immer oder nur in diesem Fall?

Im Gegensatz zum christlichen Menschenbild ist unsere Ausländerpolitik. Und, wie sich an gewissen Defiziten zeigt, unsere Wirtschaftspolitik für das Morgen.

Wie sieht denn eine Ausländer-, eine Einwanderungs-, eine Integrationspolitik aus, die Ihrem Anspruch Genüge tut?

Also erstens: Die Einwanderungspolitik braucht ein Konzept. Und ein Konzept besteht in der Integration der hier auf Dauer lebenden Ausländer. Dafür muss das christliche Menschenbild maßgeblich sein. Das heißt, die Würde des Menschen und die damit verbundenen Rechte sind unabhängig davon, ob einer Einheimischer ist oder Ausländer. Es kommt darauf an, ob die Menschen, die hier auf Dauer wohnen, sich zu den Prinzipien unserer Verfassung bekennen. Ob Christ oder Moslem, jeder muss sich an die Glaubens- und Gewissensfreiheit halten, die Gleichberechtigung der Frau, die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Erfüllt jemand diese Grundsätze, muss er das Recht bekommen, eingebürgert zu werden. Zweitens müssen wir diejenigen aufnehmen, die politisch und religiös verfolgt sind. Zu dieser Verfolgung gehört auch nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung, das ist logisch. Drittens: Wir müssen uns mehr anstrengen, wie es ja schon im Asylkompromiss steht, die Ursachen der Emigration zu beseitigen, also Armut und Bürgerkriege.

Meinen Sie mehr Entwicklungshilfe?

Nein, wir brauchen eine soziale internationale Antwort auf die Globalisierung. Wir brauchen eine internationale soziale Marktwirtschaft. Von daher kann man an eine Beseitigung der Migrationsursachen herangehen. Zum christlichen Menschenbild gehört eine Weltsozialpolitik, die bei der CDU nur in Rudimenten erkennbar ist.

Und wie würden Sie die CSU-Vorstellungen qualifizieren?

Populismus aus Angst vor der Schill-Partei.

Wie kann man Schill bekämpfen?

Von Schill habe ich noch nie ein fremdenfeindliches Wort gehört. Die Ausländerfrage ist für den kein Thema. Der Schill ist ein Law-and-Order-Mensch und will, dass die Gesetze stringent angewendet werden. Er hat hohe Publizität, weil er Richter war, spektakuläre Urteile gefällt hat, von denen er wusste, dass sie in der zweiten Instanz aufgehoben werden. Den Effekt hat er gehabt. Das ist der falsche Gegner, ein Popanz.

Hat die CSU Angst vor Schill, oder macht sie der CDU Angst vor Schill, um bestimmte Positionen durchzusetzen?

Ja, sie macht auch Angst vor Schill. Es steckt halt die alte These dahinter, dass rechts von der CDU keine demokratische Partei stehen sollte, wie das Strauß immer gesagt hat. Aber es ist, wie der frühere Oberbürgermeister von Lyon erklärt, ein Gaullist im Übrigen: Um eine solche Partei zu verhindern, darf ich nicht wegen zwei, drei Prozentpunkten mehr oder weniger meine Seele verkaufen. Und außerdem ist es auch gar nicht notwendig, wie sich im CDU-Land Baden-Württemberg mit den Republikanern zeigt. Im Grunde muss man diese alte Frage entscheiden: Mache ich eine Politik - auch im Wahlkampf -, mit der ich möglicherweise drei, vier, fünf Prozent rechtsradikale Stimmen verhindere, dann aber vielleicht zehn Prozent in der Mitte verliere? Wobei man das auch nicht allein auf die Ausländerfrage konzentrieren sollte. Das betrifft die gesamte geistige Ausrichtung der Union, die im Moment Gefahr läuft, eine sehr starke national-konservative, neoliberale Schlagseite zu bekommen.

Was heißt das für den Wahlkampf?

Gegen die halbe Nation, gegen Sozialverbände, Kirchen, Gewerkschaften, kann man keinen Wahlkampf gewinnen, das ist völlig ausgeschlossen. In der Ausländerfrage werden wir alle gegen uns haben, einschließlich der Wirtschaft. Wir haben das letzte Mal 1,6 Millionen Wähler mit einem Schlag an die SPD verloren und 300 000 an die PDS. Vor allem wegen der gesellschafts- und sozialpolitischen Position und den damit verbundenen Enttäuschungen.

Also in Ihrer Zeit als Generalsekretär ...

hatten wir 48,8 Prozent ...

Da gab es immer die schöne Redensart, dass die Union sich ihre Achse nicht verbiegen lassen dürfe. Ist die Achse verbogen?

Nicht verbogen, sondern sie hat sich verschoben, wie das Koordinatensystem.

Steht der Geist rechts?

Ja, der ist nach rechts gerückt, eindeutig. Und zwar wirtschafts- und innenpolitisch. So ist die CDU bei 35 Prozent gelandet.

Sind Sie ein Linker?

Ich?

Ja.

Nein. Ich gehöre nicht zu denen, die jemanden für rechtsradikal halten, wenn er morgens pünktlich zur Arbeit kommt.

Ist Otto Schily in der Mitte?

Schily ist rechts von der Mitte - im Auftrage des Kanzlers. Die SPD macht genau das, was die CDU eigentlich auch machen müsste, nämlich den Spagat hinzukriegen, den inhaltlichen, um rechts präsent zu sein, aber auch gewählt zu werden von Leuten, die Mitte oder Mitte-Links denken. Das tut die CDU nicht. Schily macht für die SPD das, was die CDU spiegelbildlich machen müsste.

Ist die Union noch strukturell mehrheitsfähig, noch Volkspartei?

Nicht, wenn sie so weiter macht, davon bin ich überzeugt. Dann wird sie halt bei den 35 Prozent bleiben, oder da herumvagabundieren. Die CSU, die ist anders gestrickt, die macht unsere Fehler nicht. Sie ist eine klassische Partei der sozialen Marktwirtschaft in Bayern. Sie macht eine effiziente Wirtschaftspolitik mit Förderung von High-Tech und gleichzeitig eine fast populistisch zu nennende Sozialpolitik mit dem am besten ausgebauten Netz von Kindergärten, den niedrigsten Elternbeiträgen, dem starken Netz von Sozialstationen. Die SPD hechelt hinterher, kommt da nicht mit. Die CSU macht im Land das, was die CDU in ihren besten Jahren im Bund gemacht hat.

Warum nicht mehr?

Die CDU ist eine verletzte Partei. Sie ist in den letzten zwei Jahren geschwächt und gehindert worden, eine inhaltliche Erneuerung wirklich effektiv zu vollziehen. Und zwar durch den Spendenskandal, der bis heute nicht bewältigt ist.

Fassen wir das alles mal zusammen: Achse nach rechts verschoben, Spagat funktioniert nicht, Parteispendenaffäre ohne Ende - eine Vorsitzende, die auf eine solche Führungsleistung zurückblickt, bietet die sich als Kanzlerkandidatin an?

Das hat doch nicht alles allein mit Angela Merkel zu tun. Und was den Wahlausgang anbelangt, da wird es sehr darauf ankommen, ob noch die richtigen Inhalte entwickelt werden können. Personen spielen keine so große Rolle. Bundestagswahlen sind immer Richtungsentscheidungen gewesen.

Hätte Ernst Albrecht 1980 auch verloren?

Die CDU hat ja nicht verloren.

Hätte die Union mit Albrecht als Kanzlerkandidat auch verloren? Ist es wurscht, wer vorne steht?

Ganz wurscht nicht. Aber es ist nicht ausschlaggebend. Helmut Schmidt hatte eine Kanzlerpräferenz von 75 Prozent, Strauß von 20. Aber die CDU hat die Wahl gewonnen, mit 45 Prozent. Wenn es um den Kanzler gegangen wäre, hätte die SPD eine Zweidrittelmehrheit bekommen müssen. In Wirklichkeit hat sie die Wahl verloren mit 42 Prozent, das war der Anfang vom Ende der Regierung Schmidt. Kohl hatte in den 80er Jahren nie einen Kanzlerbonus. Trotzdem hat die Union die Wahlen immer mit mehr als 45 Prozent gewonnen.

Sagen Sie uns die Richtung, in die der Wahlkampf gehen müsste? Von Ihnen stammt ja der Begriff Freiheit statt Kapitalismus.

Nein! Nicht Freiheit - Solidarität statt Kapitalismus! So müsste sie angreifen.

Warum tut die CDU das nicht?

So was muss man vorbereiten. Selbst der Slogan Freiheit statt Sozialismus hat ja einen Vorlauf von einigen Jahren gehabt. Da musste diskutiert werden, und das ist auch nicht so einfach zu begründen gewesen. Da hat man den Begriff Sozialismus sehr weit fassen müssen, um das vertreten zu können. Das war im Grunde eine Unverschämtheit den Sozialdemokraten gegenüber. Aber die waren selber schuld, weil sie sich demokratische Sozialisten genannt hatten, also das hätten sie ja nicht zu tun brauchen. Heute ist die Freiheit nicht bedroht, im Gegenteil, sie triumphiert weltweit, auch die Freiheit des Kapitals. Bedroht ist ein anderer Grundwert: die Solidarität. Die zwischen Jungen und Alten, Deutschen und Ausländern, Reichen und Armen, den Menschen und der Natur. Wo Sie hingucken entsolidarisiert sich die Gesellschaft. Davor fürchten sich die Leute. Wenn Großbanken innerhalb von vierzehn Tagen wegen Synergie-Effekten oder wegen höherer Kapitalrenditen 30 000, 40 000 Arbeitsplätze abbauen, Existenzen vernichten, macht das nachhaltigen Eindruck. An sich müssten die Sozialdemokraten das aufgreifen.

So gesehen wäre Oskar Lafontaine der ideale Kanzlerkandidat für die Union.

Nein, das ist doch klar. Aber die Ideen, die hat er von uns.

Na gut, aber was Sie sagen, findet sich eher bei ihm als bei Frau Merkel oder Herrn Stoiber wieder.

Bei Stoiber schon. Der hat das erkannt. Er hat eine sehr kritische Einstellung zur Großindustrie. Bei ihm ist das entstanden durch die mangelnde Steuermoral der in seinem Reich befindlichen Großunternehmen. Die Angela Merkel hat es aber auch verstanden. Internationale soziale Marktwirtschaft ist etwas anderes als globaler Kapitalismus. Man müsste das in der Partei intensiv diskutieren, und zwar nicht nur immer wieder mit Verbeugungen und Halbheiten, sondern müsste es auf den Punkt bringen. Die Entsolidarisierung ist natürlich vornehmlich begründet durch die Gier nach Geld, die die Gehirne der Verantwortlichen zerfrisst, in der Wirtschaft und der Politik. Deswegen: Solidarität statt Kapitalismus. Wobei die CDU einen Riesenvorteil hätte: Die erfolgreichste Wirtschafts- und Sozialphilosophie der Geschichte, die soziale Marktwirtschaft, stammt von ihr. Die müsste übertragen werden auf die Weltökonomie, und unseren Mittelstand hätte sie sofort auf ihrer Seite. Der Kapitalismus ist genauso falsch wie der Sozialismus.

Hat die Union 2002 eine Chance?

Wenn die CDU das thematisiert, dann hat sie eine echte Chance. Die Sozis machen das ja nicht. Warum die das nicht hinkriegen, weiß ich auch nicht so richtig. Jetzt wollen sie Sicherheit im Wandel. Aber das ist halt nur diese Tony-Blair-Adaption. Vielleicht ist es die Aversion gegen Lafontaine. Den wollen sie nicht wieder haben, auch nicht geistig. Dabei ist eine große Lücke da.

Wer kann so was bei der Union?

Zum Beispiel Peter Müller, Jürgen Rüttgers, Erwin Teufel, Hermann-Josef Arentz. Und bei der CSU Horst Seehofer. Sie wissen, dass der rechtskonservative, neoliberale Trend nichts taugt.

Wer kann Schröder gefährlich werden?

Da würde ich prima vista sagen, eher die Frau. Die ist gefährlicher, weil Stoiber dieselbe Machart ist wie Schröder, effizient, cool, halt Macher. Das ist zu ähnlich. Aber was weiß ich, vielleicht haben wir im Frühjahr, wenn die Personalfrage wirklich ansteht, eine ganz andere Konstellation. Ich bin wirklich dafür, möglichst spät den Kandidaten zu nennen. Es kann ja sein, dass die ganze amerikanische Aktion in einer Pleite endet, und dann sind diese ganzen großen Macher gar nicht mehr gefragt, sondern die mit mehr Fingerspitzengefühl, mehr Menschlichkeit. Eine Frau, warum nicht?

Würde es Sie reizen, diesen Wahlkampf zu leiten?

(lacht) Wenn jemand auf diese utopische Idee käme: Versuchungen sollte man nachgeben, wer weiß, wann sie wiederkommen.

Der Spitzenkandidat wäre Ihnen dann wurscht?

Der müsste zum Programm passen - von links angreifen, in der Mitte siegen.

Und Sie würden gewinnen?

Ja, gewinnen.

Herr Geißler[worin zeigt sich die Seele der]

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