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Politik: Ist Lügen gesund?

Von Richard Schröder

Die „Wahrheit über die Lüge“, die uns letzten Dienstag in dieser Zeitung als das Neueste aus der Wissenschaft präsentiert wurde, besagt: „Der Mensch lügt zwischen 1,6 und 200 mal täglich.“ Die Lüge „ist das Schmiermittel im Getriebe der Gesellschaft. Nicht die Wahrheit, sondern der Schwindel hält uns zusammen.“ „Ohne die Lüge wären wir geistig noch auf dem Niveau des Australopithecus Africanus.“ Und die Hirnforscher sollen festgestellt haben: Der „Verstoß gegen das achte Gebot der Bibel erweist sich als eine intellektuelle Herausforderung, die unsere Neuronen auf Trab bringt.“ Na dann lügt mal schön, wenn ihr intelligenter werden wollt. Nötig habt ihrs.

Es ist erstaunlich, wie viel ethischer Blödsinn uns heute als wissenschaftliche Erkenntnis verkauft wird. Die Menschwerdung hat kein Forscher beobachtet. Da gilt ein Mutmaßen so viel wie das andere. Die Vorlieben im Vermuten sagen zuerst etwas über den Vermuter. Mir gefällt die Vermutung besser, dass die Kommunikation (Sprache) die Ausbildung der menschlichen Intelligenz befördert hat. Ein Evolutionsbiologe kann das als Überlebensvorteil der Gruppe verstehen. Die Vergrößerung des Gehirns freilich kann weder so noch so seriös erklärt werden. Wenn sie auf einer Mutation beruht, ist ihre Ursache – Zufall.

Wenn mich jemand fragt: wie geht’s? und ich sage: gut, obwohl ich Zahnschmerzen habe, habe ich nicht gelogen, sondern den anderen mit meinen Zahnschmerzen nicht behelligen wollen. Denn der wird, wenn er das rauskriegt, die Rücksicht loben und mir nicht Irreführung vorwerfen – es sei denn, der Zahnarzt hat gefragt, um zu erfahren, wie er weiter zu verfahren hat. Der ist über die Desinformation sauer.

Denn eine Lüge ist die bewusste Irreführung eines anderen. Das Verwerfliche daran ist, dass wir ihm damit die Freiheit nehmen, sich zum Gegebenen zu verhalten. Den möchte ich sehen, der dazu zweihundert Mal am Tag auch nur die Gelegenheit hat.

„Eine Behauptung, die unwahr ist, ist moralisch erst einmal neutral. Entscheidend ist die Absicht.“ Das ist doppelt falsch. Entscheidend ist nicht die Absicht, sondern die Wirkung. Gute Absichten sind wohlfeil. Die Stasi wollte nur das Beste. Noch heute leiden nicht wenige unter der „Zersetzungsarbeit“ aus guter Absicht. Und die Lüge ist nicht neutral. Man braucht schwerwiegende Gründe, um jemanden bewusst in die Irre zu führen. Wenn die Gestapo fragt, ob ich einen Juden versteckt habe, habe ich allerdings einen guten Grund, mit „nein“ die Unwahrheit zu sagen. Es ist aber illegitim, aus solchen Extremsituationen Folgerungen für Normalsituationen zu ziehen. Dagegen kann jeder von uns vor der Entscheidung stehen, ob er einem todkranken Angehörigen die Wahrheit sagen soll. Das könnte seinen Lebenswillen brechen. Aber die Unwahrheit nimmt ihm die Möglichkeit, „sein Haus zu bestellen“. Ethische Fragen sind zu ernst, um sie „wissenschaftlich“ zu verblödeln.

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