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ISTANBUL: Nicht wundern

In vielen Metropolen der Welt fliehen die Bewohner im Sommer aus der heißen Stadt aufs Land oder ans Meer – doch wohl nur in Istanbul werden sie von den Behörden offiziell zum Urlaubmachen aufgefordert. Ganz selbstlos handelte der Chef der türkischen Autobahnbehörde, Mehmet Cahit Turhan, mit seiner Anfang der Woche ausgesprochenen Empfehlung für Ferien außerhalb der Stadt allerdings nicht.

In vielen Metropolen der Welt fliehen die Bewohner im Sommer aus der heißen Stadt aufs Land oder ans Meer – doch wohl nur in Istanbul werden sie von den Behörden offiziell zum Urlaubmachen aufgefordert. Ganz selbstlos handelte der Chef der türkischen Autobahnbehörde, Mehmet Cahit Turhan, mit seiner Anfang der Woche ausgesprochenen Empfehlung für Ferien außerhalb der Stadt allerdings nicht. Eine der beiden Autobahnbrücken über den Bosporus ist wegen Reparaturarbeiten bis zum September teilweise gesperrt – und das bedeutet für die 15-Millionen-Stadt den endgültigen Verkehrsinfarkt, wenn kein Weg gefunden wird, die Zahl der Fahrzeuge auf der Brücke drastisch zu verringern.

Auch ohne Engpass auf der Brücke, auf der tagtäglich 250 000 Fahrzeuge zwischen Europa und Asien pendeln, ist der Verkehr für viele Istanbuler das wichtigste Problem im Alltag. Insbesondere in den Stoßzeiten entscheiden häufig nur Minuten zwischen freier Fahrt und langer Warterei. „Wenn ich morgens um 6.45 Uhr losfahre, komme ich in einer halben Stunde durch“, sagt ein ausländischer Geschäftsmann über seinen Weg von seinem Haus am Stadtrand zum Büro. „Wenn ich um 7 Uhr losfahre, brauche ich zwei Stunden.“ In den kommenden Jahren soll eine dritte Bosporus-Brücke gebaut werden, um den wachsenden Fernverkehr um die Riesenstadt herumzuleiten.

Um dem Dauerstau auf den Straßen zu entgehen, schippern tausende Istanbuler jeden Tag mit der Fähre über den Bosporus von und zur Arbeit: Wohnen in Asien, Arbeiten in Europa oder umgekehrt. Die weltweit einzigartige Lage der Stadt auf zwei Kontinenten gehört zum Istanbuler Lebensgefühl.

Von der Anspannung im Verkehr abgesehen, lässt der Istanbuler den Alltag gerne etwas langsamer angehen. Ob beim Frisör oder in der Autowerkstatt: Erst einmal lässt man Tee kommen und schwatzt. Der kollektive Sinn für Gemütlichkeit bringt deutsche Vorstellungen von Pünktlichkeit ziemlich durcheinander. Sagt ein Istanbuler Handwerker, er werde in „zehn Minuten“ da sein, um die Waschmaschine zu reparieren, kann es gut eine Stunde dauern, bevor er vor der Tür steht. Den echten Istanbuler erkennt man daran, dass er sich nicht darüber wundert.Susanne Güsten

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