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Vielfalt, ja bitte: Die Hälfte der Deutschen ist davon überzeugt.

© Peter Kneffel/dpa

Jahresbericht der „Migrationsweisen“: Einwanderungsland und Diversity? Der Staat hinkt hinterher

Ausgerechnet im Öffentlichen Dienst und der Politik ist Vielfalt noch nicht wirklich angekommen – trotz vieler Versprechungen. In der Bevölkerung schon.

Obwohl Vielfalt und die Einwanderungsgesellschaft für viele Deutsche immer selbstverständlicher wird, kommt Diversity ausgerechnet der Politik und Öffentlicher Dienst nicht weiter: In seinem aktuellen Jahresgutachten stellt der Sachverständigenrat Integration und Migration Politik, Verwaltung und der öffentlich geförderten Kultur ein sehr gemischtes Zeugnis aus.

Die Privatwirtschaft habe bereits ihre Schlüsse gezogen , mindestens die großen Unternehmen hätten Diversity Management eingeführt, wirken also Diskriminierung entgegen und versuchen, möglichst vielfältig gemischte Belegschaften zu bekommen.

Das liegt auch daran, dass sie sich dadurch Image- und Produktivitätsgewinne und ein besseres Betriebsklima erhoffen, wie die Vorsitzende des SVR, die Politologie-Professorin Petra Bendel und ihr Vize, der Jurist Daniel Thym, schreiben. Aber: "Der öffentliche Dienst hinkt dagegen hinterher."

Der mit knapp fünf Millionen Beschäftigte größte Arbeitgeber beschäftigte 2018 gerade einmal 12 Prozent Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte, nicht einmal die Hälfte ihres Anteils an der Bevölkerung, der inzwischen über 26 Prozent liegt.

Dabei haben sich viele öffentliche Verwaltungen in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zu mehr Anstrengungen verpflichtet und den Anteil gesteigert, allerdings nur leicht. Und es gebe dringende Gründe einer kultursensiblen Öffnung der öffentlichen Verwaltung, heißt es im Bericht: Der Staat gehe so mit gutem Beispiel voran, die Behörden legitimierten sich auch durch angemessene Vertretung der ganzen Bevölkerung, die Verwaltung funktioniere gemischt besser und sie müsse sich angesichts schrumpfender Geburtenraten auch um Nachwuchs aus der ganzen Bevölkerung bemühen.

Wenig Einbürgerungen - die Politik muss etwas tun

Kritisch sieht der neunköpfige Fachleute-Rat in puncto Repräsentanz und Teilhabe die weiter stagnierende Zahl der Einbürgerungen- und verweist dabei aufs laufende Superwahljahr.

Nach einem Einbürgerungsboom nach der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts 1999/2000 sank die Zahl ständig und dümpelt seit etwa einem Jahrzehnt auf einem Niveau von jährlich etwa 110.000. Die Steigerung der letzten drei bis vier Jahre geht zu einem großen Teil auf das Konto von - offenbar brexitbetroffenen und -besorgten - Britinnen und Briten.

Zwar könnten sich Eingewanderte auch an vielen Orten politisch anders beteiligen als über die Staatsbürgerschaft und die Möglichkeit, Parlamente zu wählen und sich als Abgeordnete zur Wahl zu stellen.

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Doch "weil parlamentarische Demokratien sich über die politische Partizipation ihrer Bürgerinnen und Bürger legitimieren", hält der SVR eine deutliche Steigerung der Einbürgerungszahlen für dringend. Im Jahre 2019 hatten nur 12,5 Prozent der Wahlberechtigten Migrationshintergrund. Noch weniger, nämlich 8,2 Prozent, der Abgeordneten im Bundestag haben ihn aktuell.

Dabei liegt die Verantwortung aus Sicht der Expertinnen und Experten weitgehend bei der Politik: An den sozial vergleichbaren Stadtstaaten Bremen und Berlin könne man sehen, was Kampagnen zur Einbürgerung erreichten - am Beispiel Berlin, was nicht erreicht werde, sagte Daniel Thym bei der Vorstellung des SVR-Berichts am Dienstag. In Bremen, aber auch im seit Jahren führenden Hamburg, selbst in Thüringen und Sachsen, liegt die Einbürgerungsquote mehr als doppelt so hoch wie in Berlin.. Die Hauptstadt und das Saarland sind Schlusslichter.

Sachverständige halten am "Migrationshintergrund" fest

Die Voraussetzungen für die Maßnahmen, die die Sachverständigen fordern, sind mittlerweile günstig. Der Anteil derjenigen, die das Zusammenleben mit Menschen aus dem Ausland in Deutschland als kulturell bereichernd sehen, ist in den letzten 25 Jahren stetig gewachsen.

In der großen und seit 1980 laufenden bundesweiten Erhebung zur deutschen Sozialstruktur "ALLBUS" fanden dies 1996 nur 36 Prozent, 2006 schon 43 Prozent und vor vier Jahren 47 Prozent der Befragten. In der europäischen Sozialerhebung ESS stimme seit 2012 eine klare Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu.

Das Jahresgutachten lobt die Ansätze zum Umgang mit Vielfalt, die in Deutschland in den letzten Jahren entwickelt wurden: Die interkulturelle Öffnung von sozialen Diensten und Gesundheitssystem, Diversity Management in den Betrieben, Antidiskriminierungspolitik: "Gemein ist diesen Ansätzen, dass sie nicht fordern, Unterschiede durch Assimilation einzuebnen", heißt es im Text. " Zwar wurde dem klassischen Multikulturalismus in Reinform in Deutschland und andernorts mittlerweile eine Absage erteilt. Dass es Unterschiede gibt und grundsätzlich geben darf, ist jedoch in Politik und Gesellschaft heute weitgehend anerkannt."

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) hat Bund und Ländern empfohlen, die praktischen Hürden für die Einbürgerung zu senken.
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) hat Bund und Ländern empfohlen, die praktischen Hürden für die Einbürgerung zu senken.

© Julian Stratenschulte/dpa

Allerdings mit einer Einschränkung, die der Bericht ebenfalls erwähnt: Auch der Anteil derjenigen, denen es ausdrücklich wichtig oder sehr wichtig ist, dass sich Neubürger an einen nicht näher definierten "deutschen Lebensstil" anpassen, ist in den letzten 25 Jahren um 17 Prozentpunkte auf inzwischen 80 Prozent geklettert.

Der SVR nimmt im Jahresbericht auch Stellung zur Kritik an der Kategorie "Menschen mit Migrationshintergrund", die zuletzt die Regierungskommission Integrationsfähigkeit formuliert und die Abschaffung des Begriffs gefordert hatte. Es gibt ihn seit 2005 in der öffentlichen Statistik wie auch im Sprachgebrauch.

Die Kommission bemängelte, dass so Menschen in einer Kategorie zusammengefasst würden, die wenig mehr gemeinsam haben als eine Migrationsgeschichte in der Familie, egal ob es sich um eine Syrerin handelt, die gerade erst in Deutschland angekommen ist, oder um den Enkel italienischer Gastarbeiter, der mit der Heimat der Großeltern keinerlei Verbindung mehr hat. Der einst neutrale Begriff werde zudem im Alltag häufig negativ verwendet.

Der SVR nennt die Kritik zwar berechtigt, will aber seinerseits am Begriff festhalten. Es gebe, so der SVR dazu "bislang keine überzeugende Alternative". Um Benachteiligungen und Ungleichheit sichtbar zu machen, die an einen als fremd betrachteten Namen oder Aussehen gebunden sind, sei es "notwendig, bisweilen zwischen Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte zu únterscheiden".

Das frühere SVR-Mitglied Claudia Diehl, Soziologin an der Uni Konstanz, betonte, es sei "extrem wichtig", zwischen wissenschaftlicher und Alltagssprache zu unterscheiden". Niemand habe Lust, im Alltag in Schubladen gesteckt zu werden, ob als Alleinerziehender oder Migrantin. Für die amtliche Statistik hätten diese Begriffe aber hohen Wert. Andernfalls, so die Vorsitzende Bendel, "wäre uns eine Möglichkeit genommen, Fortschritte oder Rückschritte der Integration und Teilhabe zu messen".

Das Jahresgutachten 2021 veröffentlicht der frühere "Unabhängige Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration" erstmals nicht mehr unter seinem alten, etwas umständlichen Namen, sondern schlicht als "Sachverständigenrat für Integration und Migration".

Der SVR, der 2008 auf Initiative des Migrationshistorikers Klaus J. Bade von der Volkswagen- und der Mercator-Stiftung gegründet und jahrelang von insgesamt acht Stiftungen finanziert wurde, wurde Ende 2020 per Kabinettserlass in die Finanzierung des Bundes übernommen, der sich seine Expertise für die wissenschaftlichen Politikberatung sichern will - ähnlich der der fünf Wirtschaftsweisen, die bereits seit 1963 ihre Gutachten zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung abgeben. Beide Seiten, Bundesregierung und SVR, versicherten seinerzeit, es bleibe bei der Unabhängigkeit der neun Fachleute im SVR.

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