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Vor einem Jahr feierten die Menschen auf dem Tahrir-Platz den Sturz Husni Mubaraks.

© dpa

Jahrestag ägyptische Revolution: Marketing für die Freiheit

Ein Blick hinter die Web-Kulissen: Wie der Internetfreak Wael Ghonim die ägyptische Revolution mit herbeischrieb.

Introvertiert, ungesellig und leicht einzuschüchtern – eigentlich kein Stoff, aus dem Helden sind. Doch der ägyptische Computerfreak Wael Ghonim, der sich selbst so beschreibt, ist zu einem der Helden der ägyptischen Revolution aufgestiegen. Denn mit der von ihm gegründeten Facebook-Seite „Kullena Khaled Said“ (Wir sind alle Khaled Said) organisierte er den Widerstand gegen die Praktiken des Regimes von Hosni Mubarak mit und brachte schließlich am 25. Januar 2011 die Menschen erstmals massenhaft auf die Straße.

In seinem Buch „Revolution 2.0“ (Econ Verlag) beschreibt der 31-jährige Marketing-Direktor für Google in der Nahostregion, wie er plötzlich dabei war, „ein Produkt zu vermarkten, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich es vermarkten würde: Demokratie und Freiheit“. Doch der Anlauf zu den Großdemonstrationen, die 18 Tage später den Sturz von Präsident Mubarak einleiteten, war lang. Politische Aktivisten und Internet-Communitys hatten jahrelange Vorarbeit geleistet, ohne dass der Funke auf die Massen übergesprungen war.

Dazu gehörte die Gründung der Bewegung Kefaya (Genug) 2004, die gegen eine fünfte Amtszeit Mubaraks und den Versuch, seinem Sohn Gamal die Macht zu übertragen, antrat. 2006 und 2007 erlebte das Land eine Streikwelle, daraus entwickelte sich die Jugendbewegung 6. April, die über das Internet zu Demonstrationen für soziale Gerechtigkeit aufrief. Vorerst ergebnislos. Dann kam die Phase, in der Unzufriedene wie Wael Ghonim ihre Hoffnung auf den 2009 heimgekehrten Ex-Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, Mohammed el Baradei, setzten. „Wir brauchten einen Erlöser“, meint Ghonim und startete eine Facebook-Seite für el Baradei, ohne ihn persönlich zu kennen. Die Zahl der Nutzer stieg, dennoch ging dem Internetexperten die Sache zu langsam.

Als er am 8. Juni 2010 das entstellte Gesicht des in einer Blutlache liegenden Khaled Said sah, der zwei Tage zuvor von der Polizei in Alexandrien willkürlich totgeschlagen worden war, richtete Ghonim eine weitere Seite ein, jene „Wir sind alle Khaled Said“-Seite. Als erste Worte postete er dort: „Heute haben sie Khaled umgebracht. Wenn ich nicht um seinetwillen handele, werden sie mich morgen umbringen.“ Innerhalb von zwei Minuten waren der Seite 300 Mitglieder beigetreten, am Abend waren es 36 000. Die Themen Rechtsstaat und Menschenrechte hatten offensichtlich großes Mobilisierungspotenzial, denn jeder Ägypter hat bereits Polizeiwillkür erfahren. Da erinnerte sich Ghonim an den „Verkaufstrichter-Ansatz“, den er in seinem MBA-Studium an der American University in Kairo gelernt hatte: Zunächst die Menschen überzeugen. Anschließend sollen die Nutzer der Website anfangen, sich zu den Inhalten zu äußern, indem sie „Gefällt mir“ klicken oder Kommentare schreiben. Im nächsten Schritt sollten sie an Online-Kampagnen teilnehmen und eines Tages den Aktivismus auf die Straße tragen. „Das war mein ultimatives Ziel“, schreibt Ghonim.

Die Macht der Bilder: Wie die Aktivisten mit kreativen Protestformen Mitstreiter gewannen.

Das Magazin "Time" zählt Wael Ghonim zu den 100 wichtigsten Personen der Welt.
Das Magazin "Time" zählt Wael Ghonim zu den 100 wichtigsten Personen der Welt.

© AFP

Eine erste Petition mit Forderungen wie Aufhebung des Kriegszustandes wurde ins Netz gestellt, Unterschriften wurden gesammelt. Dann forderte Ghonim die Mitglieder auf, sich zu fotografieren, wie sie ein Schild mit „Wir sind alle Khaled Said“ hochhielten. „Die Fotos entfalteten eine Wirkung, die stärker war als alle auf der Seite geposteten Worte.“ Eine Frau schickte ein Ultraschallbild ihres ungeborenen Kindes mit den Worten „Mein Name ist Khaled und ich komme in drei Monaten auf die Welt. Ich werde Khaled nie vergessen und werde Gerechtigkeit für ihn fordern.“ Dann schlug ein User vor, sich am Freitag an der Küstenstraße in Alexandrien zu treffen, stumm, schwarz gekleidet, mit dem Rücken zur Straße und dem Blick aufs Meer – als Protest gegen die willkürliche Behandlung durch die Polizei, die Said widerfahren war. Andere User wollten eine ähnliche Aktion in Kairo und anderen Städten, 100 000 Personen erreichte die Seite schon nach wenigen Tagen, während die El-Baradei-Seite nach mehr als zwei Monaten erst diese Schwelle erreicht hatte. Doch der Schritt auf die Straße war schwer: In Kairo versammelten sich zum ersten „Stillen Widerstand“ am 18. Juni 2010 nur einige Dutzend Menschen.

Doch die ins Netz gestellten Bilder der Aktion erhielten begeisterten Zuspruch. In einer Meinungsumfrage sollten Nutzer dann die Frage beantworten, ob sie die nächste Aktion mitmachten. Die Kommentare stiegen rasant auf 120 000 an einem Tag. „Ein Gemeinschaftsgefühl entstand, obwohl niemand wusste, wer hinter der Seite stand“, spürte Ghonim. Der zweite „Stille Widerstand“ am 25. Juni war bereits ein größerer Erfolg.

Ghonim, der in den USA gelebt hatte, verbrachte einen Großteil seiner Zeit im Netz damit, die kleinen Erfolge zu feiern und den Nutzern immer wieder Mut zuzusprechen. Daher lehnte er es im Dezember 2010 auch ab, auf der Facebook-Seite über die Proteste in Tunesien zu berichten – aus Angst vor der deprimierenden Wirkung, welche die von ihm erwartete Niederschlagung der Demonstrationen haben würde. Doch die Flucht des tunesischen Präsidenten Ben Ali am 14. Januar „veränderte alles“. Ab sofort wurde über Tunesien berichtet. Der Titel der für den 25. Januar geplanten Demonstration gegen Polizeiwillkür in Ägypten wurde in „Revolution gegen Folter, Armut, Korruption und Arbeitslosigkeit“ umbenannt – um möglichst viele Menschen anzusprechen. Ghonim flehte seine Follower an, zu demonstrieren, denn „Ägypten wird sich nicht verändern, wenn wir unsere Klagen lediglich auf Facebook vorbringen“. 18 Tage später konnte er twittern: „Herzlichen Glückwunsch, Ägypten!“

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