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Jahrestag: Was hat die Welt aus Fukushima gelernt?

Der Schock der Katastrophe sitzt tief. Von 54 Atomkraftwerken laufen in Japan derzeit gerade noch zwei. Zum ersten Mal wird über Energiepolitik diskutiert. Ausgang offen.

Atomkraft– und sonst nichts. Das war es, was Japan über Jahrzehnte wollte. Eine Technologie, die billigen Strom versprach, immer vorhandenen Strom, sauberen Strom. Sie bekamen ihn. Woher, das wollten nur wenige genau wissen. Orte, die Kraftwerke in ihrer Nähe akzeptierten, erhielten großzügige Subventionen. Die Industrie bot Arbeitsplätze. Hier und dort gab es vereinzelt Atomkraftgegner, aber kaum jemand beschwerte sich wirklich. Und selbst wenn: Die Regierung hatte entschieden.

Die Konzentration auf Kernenergie war nur ein weiterer schlüssiger Schritt in der Geschichte des Landes, die auch eine der Isolation ist. Atomenergie sollte wirtschaftliche Unabhängigkeit sichern, Mangel an Energie und Ressourcen sollten nie wieder Grund sein, einen Krieg zu führen. 54 Atomkraftwerke bauten die Japaner seit den siebziger Jahren, 14 weitere waren in Planung.

Dann kam der 11. März 2011.

Es war ein Freitagnachmittag, etwa 14.46 Uhr Ortszeit, als vor der japanischen Ostküste, tief unten am Boden des pazifischen Ozeans die Erde aufriss, ein Beben auslöste, so stark, wie es in Japan nie zuvor gemessen worden war. Auf der Richterskala erreichte es einen Wert von 9,0. Das Beben löste einen Tsunami aus. Beinahe mit der Geschwindigkeit eines Verkehrsflugzeugs rollte die Welle auf die japanische Nordostküste zu, eine knappe Stunde später traf sie, etwa zehn Meter hoch, auf Land.

Das Wasser überspülte Städte und riss ganze Dörfer mit sich. Fast 20 000 Menschen starben in der Flut – und das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, direkt an der Küste, erlitt irreparablen Schaden. Reaktoren explodierten, schon Stunden nach der Katastrophe schmolzen die ersten Brennstäbe, Strahlung entwich. Umliegende Gebiete wurden evakuiert, Landschaft, Vieh und Nahrungsmittel verstrahlt. Der Kraftwerksbetreiber Tepco, die japanische Regierung, die Welt schauten machtlos zu. Das Unglück war eine Zäsur, und es ist zugleich eine historische Chance.

Weltweit diskutierten Politiker über ein mögliches Ende des Atomzeitalters. Auch in Japan sagten sie: Wir müssen unsere Energiepolitik überdenken. Doch was hat die Welt, was hat Japan aus der Katastrophe von Fukushima gelernt?

Einer, der fest an eine Energiewende glauben will, ist Tetsunari Iida, Japans berühmtester Atomkritiker. Es gibt eine Situation, die Iida für ähnlich historisch hält wie jene, in der sich sein Land eben gerade befindet: Die Kapitulation 1945. Japan, meint er, stehe unter Schock. Nie standen Iidas Chancen, seine Vision durchzusetzen, besser als jetzt. „Wir entwickeln uns hin zu einer offeneren und demokratischeren Gesellschaft“, sagt Iida sehr nachdrücklich. Es ist eine Stärke, bei der Freude über kleinste Erfolge das große Ziel nie aus den Augen zu verlieren: Strom, der zu hundert Prozent aus erneuerbaren Energien gewonnen wird. Japan ohne Atomkraft.

Damit dies irgendwann klappen könnte, müht er sich seit Jahren intensiv. Schon 2001 gründete er das Institute for Sustainable Energy Policies (Isep), das Umweltschützer und Wissenschaftler zusammenbringt, das versucht, mit Fördergeldern von Stiftungen und aus dem Ausland sowie wenig Personal im Inland, die Energiewende voranzutreiben. Tetsunari Iida glaubt an Wandel. Bevor er zur Gegenseite wechselte, arbeitete er als Nuklearingenieur. Es war ein Kompromiss, dass er damals, Ende der 70er Jahre, Nuklearwissenschaften studierte. Mathematik oder Physik hatten es sein sollen, an der für Physik berühmten Universität von Kyoto. Doch zu Hause war einfach nicht genügend Geld für lange Studien des Sohnes vorhanden. So wurde es ein Ingenieursstudium, kurz und mit der Aussicht auf einen sicheren Arbeitsplatz. Mit wirklicher Überzeugung hat Tetsunari Iida diesen Beruf allerdings nie ausgeübt. Sehr schnell frustrierte ihn die offensichtliche und allzu enge Verbindung von Politik und Wirtschaft in Japan.

Iida ist ein kleiner und energischer Mann, der heute mit einem Lächeln davon erzählt, was für ein naiver „Science-Boy“ er damals gewesen sei – bis ihm seine Arbeit Einblick verschaffte in die Abgründe der Atomenergiebranche seines Landes, in Verstrickungen und Vertuschung. Iida beschloss den Atomausstieg. Seinen persönlichen zunächst. Dann den des Landes.

Nun bleibt die Frage, ob der Weg Japans dem des einstigen selbst erklärten Naivlings gleicht. Dass, aufgerüttelt durch den desaströsen Unfall im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, die Japaner sich nun abwenden von der Atomenergie. Sich auf die Seite Iidas schlagen vielleicht. Aber ist das so?

„Ach“, sagt Tetsunari Iida, „unsere politische Kultur ist schwer zu verstehen. Die Regierung ist wie ein strenges Elternpaar, dem die Menschen gehorchen. In Gedanken aber misstrauen sie den Politikern.“ Stummes Misstrauen. Bei einer Reise nach Japan am Ende des schlimmen Jahres 2011 ist das zu spüren. Manchmal wird es auch laut. Als, um Energie zu sparen, im vergangenen Sommer Klimaanlangen nicht genutzt werden konnten, machten sich viele im Land erstmals Gedanken darüber, wo ihr Strom bislang herkam – und woher er künftig kommen soll. Plötzlich war Elektrizität nicht mehr endlos verfügbar, Tokio, die Stadt der Leuchtreklame, blieb nach dem Unglück dunkel; Unternehmen führten Wochenendschichten ein, um den Energieverbrauch breiter zu verteilen und Zeiten des hohen Verbrauchs zu umgehen.

Ein Besuch in der Tokioter Sophia Universität, eine Vorlesung über Außenpolitik. Am Pult steht Dozent Taizo Miyagi. Er erzählt von etwas, das die Japaner ängstigt. Etwas, das die Aussicht auf die Energieversorgung in der Zukunft noch dunkler erscheinen lässt: Japan ist nicht mehr Weltwirtschaftsnation Nummer zwei. Die Chinesen haben das kleine Land überholt. „Wirtschaftskraft Nummer drei“, sagt Professor Miyagi, „ist keine schöne Identität.“

Kein Wunder also, dass die japanische Wirtschaft kein Interesse daran hat, die eigene Produktion entlang energiepolitischer Maßnahmen zu planen. Japan wiederum, unter den Industrienationen weltweit am höchsten verschuldet, braucht die Wirtschaft. Man sperre sich nicht gegen alternative Energieerzeugung, heißt es zum Beispiel in der Automobilindustrie. Im Gegenteil, man nutze sie sogar selbst. Vorrangig aber sei, über ausreichend Strom verfügen zu können. Woher, ist nebensächlich. Auch beim Keidanren, dem japanischen Interessenverband der Industriellen, steht man einem möglichen Atomausstieg mehr als skeptisch gegenüber. Generell gilt: Die Kernkraft soll auch weiterhin eine wichtige Exporttechnologie bleiben.

Um die Energiewende für das Land durchsetzen zu können, sagt Tetsunari Iida, müsse die enge Verstrickung zwischen Wirtschaft und Politik aufgelöst werden. Das klingt schon in einschlägigen Erzählungen nicht einfach: Sie handeln etwa von ehemaligen Funktionären des Energieriesen Tepco, die nun in der Politik aktiv sind, oder anders herum; vom Partei- und Mediensponsoring der Energieindustrie. Nach Professor Miyagis Vorlesung aber klingt es noch viel schwieriger.

In der Vorlesung sitzt auch Yuta Oe, 22 Jahre alt. Tage bevor die Reaktoren im Atomkraftwerk Daiichi explodierten, schrieb er gerade einen Essay zum Japanisch-Indischen Atomvertrag. Er notierte etwas von der so genannten weltweiten Nuclear Renaissance, der überaus sinnvollen Förderung des Atomstroms als sauberer und in Fülle vorhandener Ressource. Dann kam der 11. März und seine Regierung schwenkte um. Der damalige Premierminister Naoto Kan verkündete, er wünsche sich eine Zukunft, in der Japan zu 100 Prozent mit erneuerbarer Energie versorgt werde. Kurz darauf sagte er, dies sei nur seine persönliche Meinung gewesen. Dann trat er zurück.

Sein Leben, sagt Yuta Oe, habe sich geändert. Vor dem Unfall habe er an die Nachrichten geglaubt wie an den positiven wirtschaftlichen Effekt der Kernkraft. Danach musste er selbst beginnen, Informationen zu suchen, denn offizielle gab es ja nicht. Er begann zu misstrauen. Den Kraftwerksbetreibern, den Medien, der Politik. „Die Politiker“, sagt er, „sind sehr weit entfernt vom Alltag. Und die Bürger üben nur aus der Ferne Kritik.“

Professor Toru Takeda, Fachmann für jüngere japanische Geschichte, wundert das wenig. „Japan ist eine Demokratie, und trotzdem glaubt die Bevölkerung nicht, dass sie etwas ändern kann“, sagt er. Er hat ein Buch geschrieben, dessen Titel sich grob mit „Warum wir uns entschieden, unsere Nation auf Kernkraftwerken zu errichten“ übersetzen lässt und das nun in der Krise wieder aufgelegt wurde. Als es erschien, erhielt er E-Mails und Briefe, in denen stand: Ich habe von all dem nichts gewusst! Das zeige, meint er, dass sich die Japaner noch immer nicht bewusst seien, was in ihrem Land eigentlich passiert.

Dass ausgerechnet Japan, im zweiten Weltkrieg gleich zwei Mal Opfer schrecklicher Zerstörung durch Atombombenabwürfe zum weltweiten Vorreiter in der Nutzung von Atomenergie wurde, erscheint etwas paradox. Weit mehr als 200 000 Menschen starben bei oder direkt nach den Detonationen in Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945, etliche leiden noch heute unter den Spätfolgen der Strahlung. Dass die Japaner die Nutzung von Kernenergie dennoch nie hinterfragten, erklärt Professor Takeda so: „Hiroshima als gesamtjapanische Tragödie zu begreifen, dafür haben wir Verständnis. Aber Energie ist etwas anderes, deswegen gibt es da keine Berührungspunkte.“

Ehemaligen Bewohnern der Gemeinden rund um das Kernkraftwerk in Fukushima scheint es heute ähnlich zu gehen wie den Überlebenden der Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki damals – sie werden wegen ihrer mutmaßlichen Verstrahlung diskriminiert. Zumindest kursieren viele Geschichten über Diskriminierung. Es gibt Mütter die besorgt sind, dass niemand ihre Töchter wird heiraten wollen, wenn erst bekannt ist, dass sie aus Fukushima kommen; Kinder, neben denen in der Schule niemand sitzen möchte, weil sie zuvor in der Gegend rund um das havarierte Kraftwerk lebten; ein achtjähriges Mädchen, das Ärzte in einem Krankenhaus nicht behandeln wollten, weil sie kein Zertifikat vorlegen konnte, dass sie nicht verstrahlt sei.

Der Erfolg der recht einseitigen japanischen Selbstversorgungs-Energie-Strategie erweist sich nun, auf der Suche nach alternativen Energiequellen, erst recht als Pferdefuß. Denn nach dem Unfall hat sich Japans vermeintlicher Vorteil der Unabhängigkeit in ein großes Problem verwandelt: Die Insel ist auf sich allein gestellt. Kein Kabel liefert Strom aus Südkorea, keine Pipeline Gas aus Russland. Mit den Nachbarn China und Russland streitet sich Japan um umliegende Inseln, was eine Kooperation zwischen den Ländern erschwert. Also verbleibt, bis auf weiteres, eine gewisse Abhängigkeit von der Kernenergie. Ob das Land nach 2040 – bis dahin gilt die Laufzeit für bestehende Meiler – atomfrei sein wird, dazu äußert sich die Regierung nicht.

Derzeit sind nur zwei der 54 landesweiten Atomkraftwerke noch in Betrieb. Etliche sind für Wartungsarbeiten abgeschaltet. Um die Energieversorgung zu sichern, haben die Stromkonzerne stillgelegte Öl-, Kohle- und Gaskraftwerke wieder in Betrieb genommen. Nur noch drei Prozent des Strombedarfs werden derzeit durch Atomkraftwerke gedeckt. Im Sommer soll ein neuer Energieplan ausgearbeitet sein. Viele Fragen sind zu klären. Zuvorderst jene, welche Energieform kurz- und mittelfristig die Atomkraft wird ersetzen können.

Tetsunari Iida hofft auf die Sonne. Weil Solaranlagen am schnellsten gebaut und in Betrieb genommen werden können. Der Wind, hofft er, möge dann folgen. Sein Institut jedenfalls versucht, die alternative Energie auf kommunaler Ebene durchzusetzen. Makaber aber wahr: Die besten Chancen haben sie nun in den Gebieten, deren Energieinfrastruktur durch das große Beben und den Tsunami zerstört worden ist.

Iida ist froh, endlich mitreden zu können. Auch wenn er nicht sicher ist, ob ihm wirklich zugehört wird. Das ganze sei wie im traditionellen, farbenfrohen Kabuki-Theater. Mit dem Unterschied, dass der Ausgang des Stücks nicht von vornherein bekannt sei. Immerhin: auch die nationale Atomaufsichtsbehörde Nisa soll nun aufgelöst und eine neue Behörde gegründet werden. Während die Nisa dem Wirtschaftsministerium unterstellt war, das die Atomenergie im Land stets förderte, soll die Nachfolgebehörde ab April dem Umweltministerium angegliedert sein. Iida ist trotzdem skeptisch: „Die Mitarbeiter“, sagt er, „werden vermutlich dieselben sein.“

Trotzdem ruhen auf dem Umweltministerium und seinem Chef Goshi Hosono, einem jungen Politiker der regierenden Demokratischen Partei Japans, Hoffnungen. Hosono, einst Berater von Naoto Kan, möchte die Strukturen der Atomaufsicht verändern. Er bemüht sich um die Entsorgung gigantischer Mengen kontaminierten Mülls aus den zerstörten Gebieten rund um Fukushima und um mehr Transparenz und Informationen für die Bevölkerung. In seinem Ministerium bitten Schilder die Mitarbeiter, auf den Fahrstuhl zu verzichten, wenn sie nur drei Stockwerke hinauf oder runter laufen müssen. Manche der Jüngeren, erzählt man sich hier, laufen sogar bis in den 27. Stock. Der Umweltminister sagt, einen vollständigen Atomausstieg halte er für schwer vorstellbar.

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