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Politik: „Jamaika liegt nicht an der Spree“

Grünen-Fraktionschefin Renate Künast über Topfschlagen, Ernsthaftigkeit und Farbenspiele

Frau Künast, warum werden die Grünen nur noch wahrgenommen, wenn es um dreifarbige Koalitionen geht?

Das sehen Sie so, aber deshalb muss es noch lange nicht stimmen. Ich sage: Die Grünen werden wegen ihrer Inhalte und Konzepte wahrgenommen – bei den zentralen Zukunftsthemen des Landes: Kinder, Integration oder Energie zum Beispiel. Allerdings muss ich zugeben, dass es in einer auf kurze Botschaften ausgerichteten Medienlandschaft schwer ist, Konzepte rüberzubringen.

Gibt es nicht noch andere Gründe?

Die Grünen sind in einer Situation, die eine besondere Darstellungskunst erfordert. Die beiden anderen Oppositionsfraktionen kommen nicht direkt aus einer Regierungsbeteiligung. Sie arbeiten nicht mit so großer Ernsthaftigkeit wie wir an Konzepten. Mein Anspruch an Oppositionsarbeit ist aber, nicht nur den Finger auf die Wunde zu legen, sondern konkrete alternative Reformschritte vorzulegen. Die Grünen müssen eine Premiumopposition sein, die Antworten auf die Kernfragen der Zukunft gibt. Ich habe auch gar keine Lust, jeden Morgen aufzustehen und Topfschlagen zu spielen. Das ist nicht mein Ding, das finde ich grauenhaft.

Trotzdem profitiert die FDP in den Umfragen automatisch von der Kritik an der großen Koalition, die Grünen stagnieren.

Wir stehen doch gut da, liegen in den Umfragen über unserem Bundestagswahlergebnis. Ich glaube, dass die Zahlen der FDP nicht lange halten werden. Herr Westerwelle wird auf Dauer keinen Erfolg damit haben, die Unzufriedenen unter den Unionswählern auf seine Seite zu ziehen, zumal es für diese Politik zum Glück keine Mehrheit gibt. Frau Merkel ist gerissen genug, der FDP die Leihstimmen wieder abspenstig zu machen.

Immerhin hat die FDP ihren Grundton gefunden, man weiß, woran man ist. Können Sie das auch von Ihrer Partei sagen?

Die FDP ist statisch, die PDS übrigens auch. Beide stehen in einer bestimmten Ecke. Die FDP bedient die unzufriedenen Wirtschaftskreise. Sie hat kein Konzept für den Sozialstaat des 21. Jahrhunderts, sondern will nur alle Risiken des Lebens privatisieren. Die FDP degradiert das Soziale zu Brosamen vom Tisch der Reichen. Wer will in so einer Welt leben, in der selbst für das Rollerfahren der Kinder noch eine Extra-Versicherung nötig ist? Ich nicht, mir stehen da die kurzen Haare zu Berge.

Warum laufen unzufriedene SPD-Wähler nicht zu den Grünen über wie unzufriedene Unionswähler zu den Liberalen?

Vielen ist die SPD sicher nicht etatistisch genug, sie trauern dem alten Sozialstaat nach und stehen Reformen grundsätzlich ablehnend gegenüber. Das kann natürlich nicht Klientel der Grünen sein, denn wir wollen systematisch und gnadenlos beharrlich den neuen Sozialstaat des 21. Jahrhunderts entwickeln, der auch für die Jüngeren noch Angebote hat.

Wie soll der grüne Sozialstaat aussehen?

Wir fragen danach, wer was solidarisch tragen muss, der Staat, die Unternehmen, die Bürger. Die demografische und die Arbeitsmarktentwicklung führen dazu, dass unsere Sozialsysteme nicht wie bisher finanzierbar sind. Wie kann in einer globalisierten Welt mit prekären Arbeitsverhältnissen jeder Einzelne instand gesetzt werden mitzumachen? Es kann nicht nur darum gehen, dass die staatlichen Transferleistungen effizienter gemacht werden müssen. Man muss auch die Frage stellen, was Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft bedeutet.

Nämlich?

Jedes Kind muss seine Entwicklungsmöglichkeiten bekommen. Das ist der Ausgangspunkt für eine gerechte Gesellschaft. Dafür müssen wir Geld locker machen. Dieses Geld muss für den Ausbau der Infrastruktur verwendet werden, nicht für Transferleistungen. Wir brauchen in Deutschland den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, der mindestens ein Jahr gebührenfrei sein muss. Am Ende muss eine kostenfreie Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr stehen. Jedes Kind zu bilden, ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine Kernfrage der Zukunft unseres Landes.

Woher soll das Geld kommen?

Das Ehegattensplitting für kinderlose Ehepaare muss umgebaut werden. Das bringt rund fünf Milliarden Euro für Kindergärten. Und so wie in der Kinder-, Familien- und Bildungspolitik nehmen wir uns jeden Bereich vor, ohne den Leuten nach dem Munde zu reden. Das ist natürlich schwerer, als nur Emotionen aufzugreifen und gegen das Chaos der großen Koalition vom Leder zu ziehen.

Kämpfen die Grünen dafür mit ähnlich großer Leidenschaft wie Anfang der 80er für die Umweltfrage? Fühlt sich Ihre Partei als Avantgarde eines neuen Sozialstaats?

Wir sind für diese Gerechtigkeitsfrage sehr engagiert. Das gilt nicht nur für die Familienpolitiker in der Fraktion, sondern für die grüne Partei in der Fläche. Im Übrigen ist es nicht so, dass das Umweltthema für uns an Bedeutung verloren hätte, im Gegenteil. Eine moderne Kinderpolitik und eine moderne Umwelt- und Energiepolitik sind zentral für die Grünen. Neu ist, dass wir beides auch immer unter dem ökonomischen Gesichtspunkt betrachten.

Ist es nicht so, dass es kein Thema mehr gibt, für das die Grünen den Alleinvertretungsanspruch erheben können?

Wir sind immer noch die Umweltpartei. Die anderen versuchen, Überschriften zu setzen, aber sie liefern keine Inhalte. Nehmen Sie den so genannten Energiegipfel bei Merkel: Das Klima verändert sich, die Rohstoffe werden knapp und immer teurer. Wir brauchen vom Durchschnittsverbrauch der Autos über Biomasseaktionsplänen bis zur Versteigerung der Emissionsrechte weitere mutige Schritte. Aber schauen Sie sich allein die Gästeliste des Energiegipfels an. Es waren fast ausschließlich Vertreter der Wirtschaft eingeladen und hier vor allem die vier marktbeherrschenden Akteure. Dies macht die Präferenzen der Gastgeberin klar. Eine ergebnisoffene Diskussion über die Aufgaben für eine nachhaltige Energieversorgung, Energieeffizienz und Energieeinsparung war offensichtlich nicht gewollt. Die Verbraucher kriegen weiter den Stromschlag bei der Endabrechnung und die großen Energieunternehmen ihre Lobbyinteressen erfüllt.

Ist Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) hinter Jürgen Trittin zurückgefallen?

Gabriel ist ein Meister der schönen Worte, aber wenn es ums Konkrete geht – Fehlanzeige. Er hat zum Beispiel die weich gespülte Chemikalienverordnung der Europäischen Union durchgehen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hat beim Emissionshandel auf die Versteigerung von Verschmutzungsrechten verzichtet. Gabriel ist allenfalls ein schlechter Nachlassverwalter Trittins. Er hat keinen eigenen Antrieb, er kämpft für nichts, und deshalb bewegt er auch nichts. Er ist Sozialdemokrat, er brennt eben nicht für das Umweltthema. Wahrscheinlich brennt er für die SPD-Kanzlerkandidatur.

Immerhin stemmt er sich gegen einen Ausstieg aus dem Atomausstieg.

Da bleibt ihm angesichts der Mehrheiten in der SPD ja auch nichts anderes übrig. Ein Wiedereinstieg in diese Risikotechnologie wäre sein politisches Ende.

Vielleicht reicht es ja aus, als SPD-Minister in der großen Koalition gegen den internationalen Trend am Ausstieg aus der Atomenergie festzuhalten.

Ich bestreite, dass es eine Renaissance der Atomenergie gibt ...

Das tut Gabriel auch.

Mag ja sein. Aber das reicht eben nicht. Ende des Jahres werden wir eine neue Klimaeinschätzung bekommen. Die wird zeigen: Die Klimaschäden sind viel schlimmer als bisher angenommen. Das kann auch für die Wirtschaft verheerende Folgen haben. Wenn wir jetzt nicht aufpassen, werden wir nicht nur einen dramatischen Klimawandel erleben, dann werden wir bei horrenden Rohstoffpreisen auch ökonomisch zurückfallen und unsere Vorreiterrolle bei klimaschonenden Technologien und erneuerbaren Energien verspielen. China und Indien investieren schon jetzt massiv in diesen Bereich. Wir müssen mit staatlichem Druck und mit staatlichen Anreizen dafür sorgen, dass unsere Industrie nicht nachlässt. Unsere Frage muss immer lauten: Wer bildet CO2, wer vermeidet CO2, und da muss die Linie der Politik verlaufen.

FDP-Chef Westerwelle führt schon das Wort Neuwahlen im Munde. Ist die große Koalition am Ende?

Am dritten Juli war die große Koalition mit ihrer Mär von der großen Kraft zur Lösung der Probleme am Ende, als sie sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner für eine Gesundheitsreform geeinigt hat. Die Regierung hat hier ein unglaubliches Durcheinander angerichtet. Dazu nur ein Punkt: Keine Krankenkasse weiß, was sie in den nächsten Jahren für Einnahmen haben wird. Was kommt für die Kinderversicherung in die Kassen? Kein Unternehmen kann ordentlich wirtschaften, wenn die Regierung erst Milliarden streicht und dann zu feige ist, mittelfristig die Zuschüsse aus Steuern zu regeln.

Rechnen Sie mit einem vorzeitigen Ende der großen Koalition?

Anders als vor ein paar Monaten würde ich heute nicht mehr darauf wetten, dass Union und SPD bis 2009 zusammen bleiben, den Mut, Politik zu machen, haben sie schon lange verloren. Wir werden bereit sein, aber nur für mutige Politik, insbesondere bei den beiden zentralen Zukunftsfragen Kinder und Energie.

Zurück zur Dreifarbenlehre: Stehen die Grünen in Berlin für ein Bündnis mit SPD und Linkspartei zur Verfügung und wäre das auch eine Option im Bund?

Für die Grünen ist es wichtig, in Berlin zu zeigen, dass wir gebraucht werden, damit es vorangeht mit der Stadt. Ich werde mich im Berlin-Wahlkampf aber nicht damit begnügen, dass wir für eine Dreierkonstellation benötigt werden. Ich werbe dafür, Rot-Rot durch Rot-Grün abzulösen.

Das heißt aber auch: Rot-Rot-Grün, wenn es für Rot-Grün nicht langt.

Ich kämpfe für Rot-Grün, und das ist den Umfragen zufolge auch zu schaffen.

Schwarz-Gelb-Grün und Rot-Gelb-Grün schließen Sie aus?

In Berlin sind Union und FDP nicht regierungsfähig. Die CDU tritt hier mit einem Spitzenkandidaten an, der die Stadt überhaupt nicht verstanden hat und sein Fähnchen nach dem Winde richtet. Eine Koalition mit der Hauptstadt-CDU wäre schon deshalb nicht zu verantworten. Für Friedbert Pflüger gilt: Er tanzte nur einen Sommer. Wir Grünen wissen: Jamaika liegt nicht an der Spree.

Würden Sie auch im Bund einem Bündnis mit der Linkspartei im Zweifel den Vorzug geben vor einer Jamaika-Koalition oder Rot-Gelb-Grün?

Die Grünen haben mehrere Optionen, und das ist auch gut so. Mit diesen Fragen wird sich die Partei von Fall zu Fall auseinander setzen. Wir müssen natürlich immer wieder die Machtfrage stellen, weil wir ja dieses Land weiter voranbringen wollen. Aber wir stehen nur zur Verfügung für eine neue Gerechtigkeit, speziell auf Kinder und eine nachhaltige Energie- und Wirtschaftspolitik bezogen. Daran werden wir es messen.

Der frühere Außenminister Joschka Fischer sagt, dass Israel um seine Existenz kämpft – mit angemessenen Mitteln?

In Israel wird der Krieg tatsächlich als Existenzkampf wahrgenommen. Die tausenden Raketenabschüsse auf Israel und die israelischen Todesopfer werden hierzulande von den Bildern der libanesischen Opfer weitgehend verdrängt. Allerdings geht es auch für zehntausende libanesischer Zivilisten mittlerweile um die Existenz, und das ist nicht länger hinzunehmen. Gerade weil Israel weiß, welches Leid Hamas- und Hisbollah-Terror unter der eigenen Zivilbevölkerung anrichten, muss es die libanesische Zivilbevölkerung schützen und einem gemeinsamen Waffenstillstand zustimmen.

Wie kann die UN-Resolution 1559, also die Entwaffnung der Terrormilizen im Südlibanon, durchgesetzt werden?

Entwaffnung wird nicht per Kampfeinsatz möglich sein. Deshalb brauchen wir dringend einen sofortigen Waffenstillstand als Voraussetzung für einen politischen Prozess, an dem außer den Konfliktparteien auch die Uno, die USA, die EU, Syrien und der Iran beteiligt sein sollten. Dann muss der Libanon rasch und mit Hilfe der Weltgemeinschaft wieder aufgebaut sowie der schwache Zentralstaat und die libanesische Armee gestärkt werden. Die Hisbollah wird nicht einfach verschwinden – aber sie muss zu einer rein politischen Kraft werden.

Der israelische Ministerpräsident hat sich dafür ausgesprochen, an einem UN-Einsatz auch die Bundeswehr zu beteiligen. Werden deutsche Soldaten dort kämpfen?

Davon sind wir noch weit entfernt. Grundvoraussetzung für jeden Einsatz in der Region sind ein klares Mandat und die Zustimmung aller Konfliktparteien. Im Übrigen muss eine Beteiligung deutscher Soldaten nicht zwangsläufig ein Kampfeinsatz sein. Wir können unseren Beitrag auch durch Ärzte und Sanitäter, bei der Versorgung und beim Wiederaufbau der Infrastruktur erbringen. Aber trotzdem muss es zunächst um einen Waffenstillstand gehen, alles andere sind theoretische Überlegungen.

Die Fragen stellten Tissy Bruns und Stephan Haselberger. Das Foto machte Mike Wolff.

ANWÄLTIN

Die gelernte Sozialarbeiterin Renate Künast arbeitete im Berliner Strafvollzug, studierte Jura und ist seit 1985 Rechtsanwältin.

MINISTERIN

1979 wurde sie Mitglied der Berliner Alternativen Liste. Als die rot-grüne Koalition gebildet wurde, galt sie schon als ministrabel; Verbraucherschutzministerin wurde sie 2001 im Gefolge des BSE-Skandals.

OPPOSITIONSCHEFIN

Das Ministeramt legte sie sofort nach der letzten Bundestagswahl im September 2005 nieder, um die Führung der grünen Bundestagsfraktion zu übernehmen. Grün heißt Doppelspitze: Sie teilt sich die Aufgabe mit Fritz Kuhn.

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