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Blick nach vorn: Kanzlerin Merkel (CDU), FDP-Chef Lindner und die Grüne Göring-Eckardt

© Michael Kappeler/dpa

Jamaika-Sondierungen - von Cannabis bis Videoüberwachung: Streiten, Durchatmen, Weitermachen

Die Jamaika-Parteien verhandeln wieder, die Stimmung unter ihnen ist besser geworden. Worüber müssen sich Union, FDP und Grüne noch einigen? Ein Überblick.

Von Robert Birnbaum

Der Schreck scheint heilsam gewesen zu sein, vorerst jedenfalls. Am Donnerstag hatte Angela Merkel den heillos verhakten Jamaika-Sondierern eine Auszeit verpasst, am Sonntagabend haben sich die Verhandlungsführer im kleinsten Kreis tief in die Augen geschaut. Seither geht es wieder voran bei den Koalitions-Vorverhandlungen. Das Cheftreffen habe „reinigenden Charakter“ gehabt, sagt CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer.

Doch auch die vorerst letzte Sondierungsrunde hat am Montag wieder gezeigt: Es bleiben neuralgische Punkte, an denen CDU, CSU, FDP und Grüne zuverlässig aneinander geraten. Und damit sind nicht nur Randfragen wie die Freigabe von Cannabis gemeint, zu der Grüne und Freidemokraten in fröhlicher Eintracht die Union überreden wollen.

Was hat die Stimmung verbessert?

Über das Cheftreffen in der Bayerischen Landesvertretung schweigen sich die Beteiligten aus. Horst Seehofer erklärt das aus dreieinhalb Jahrzehnten Erfahrung zum Prinzip: Ganz schlecht sei es, wenn Chefs Verhandlungen kommentierten. „Sie werden von mir keine öffentliche Begleitung hören“, sagt der CSU-Vorsitzende am Montagmorgen, bevor er wieder in die Parlamentarische Gesellschaft geht. Auch die Kanzlerin ist so gut wie abgetaucht.

Bei den kleineren Partnern ist das Bedürfnis nach Selbstrechtfertigung größer: Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir halten die Grünen-Basis mit einem Video-Kanal auf dem Laufenden, FDP-Chef Christian Lindner twittert und gibt reihenweise Interviews. Aber auch sie fanden das Chef-Treffen augenscheinlich gut. Lindner verkneift sich die fast schon rituelle Drohung, dass die Freidemokraten ja nicht unbedingt mitregieren müssten, und nennt die Abschaffung des Solidaritätszuschlags nur noch „ökonomisch klug“. Das klingt schon viel konzilianter als bisher. „Es hat Vertrauen geschaffen“, fasst auch Göring-Eckardt das Gespräch zusammen.

Worauf können die Parteien sich einigen?

Die Fünfer-Runde hat in den drei Stunden am Abend offenkundig neben dem Binnenklima und dem Zeitplan auch Möglichkeiten für inhaltliche Kompromisse besprochen. Beim Familiennachzug für Flüchtlinge wird über Stichtagsregelungen und Jahreskontingente zumindest mal nachgedacht. Die CSU sperrt sich zwar vor und hinter den Kulissen vorerst weiter gegen jeden Abstrich an ihrem Kompromiss mit der CDU. Doch selbst Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, der wie zu besten Generalsekretärszeiten wieder die Rolle des scharfen Hunds übernommen hat, klingt jetzt nicht mehr ganz so ultimativ: „Keine Koalition ohne klare Begrenzung der Zuwanderung“ – die Formel lässt Raum für Bewegung.

Insofern passte es gut ins Konzept, dass am Montag erst einmal Wohlfühl-Themen auf dem Plan standen: Über Bildung und Digitalisierung als zwei Schwerpunkte einer gemeinsamen Regierung herrscht Einigkeit. Dass Grüne und FDP sich leichter mit der Forderung tun, die Länder-Zuständigkeit für Bildungsfragen aufzuweichen, als die Unions-Ministerpräsidenten in der Verhandlungskommission, tut dem keinen Abbruch. So ist eine Fortsetzung des Hochschulpakts schon Konsens, ebenso ein Ausgabenerhöhung für Forschung und Entwicklung von heute 3,0 auf 3,5 Prozent des Bruttosozialprodukts bis 2025. Das würde im nächsten Jahr 300 Millionen Euro zusätzlich kosten und 2021 zwei Milliarden Euro. Unstreitig ist auch, dass die großen Lücken in der Internet-Versorgung und im Handy-Funknetz schnell geschlossen werden sollen.

Worüber könnte es wieder Streit geben?

„Die Schaffung eines modernen Datenrechts“ birgt noch Stoff für hitzige Debatten über die Balance von Bürgerrechten und Datenwirtschaftsinteressen. Das gilt erst für die Innen- und Rechtspolitik. Mehr Polizisten und Justizmitarbeiter wollen alle, aber im vorläufigen Papier werden noch keine Zahlen genannt. Selbst zusätzlicher Video-Überwachung an „Kriminalitätsschwerpunkten“ oder bei Veranstaltungen haben Grüne und FDP zugestimmt. Aber dann folgt eine lange Themenliste, über die noch zu sprechen ist, von Datenspeicherung bis Whistleblower-Gesetz. Jeder Punkt dieser Liste beginnt mit „die Frage ...“ – im Jamaika-Code steht das für: sehr, sehr strittig.

Nun werden die Unterhändler nicht müde zu betonen, dass diese Papiere nur Ergebnis einer jeweils ersten Runde sind – geklärt werde soll vieles erst in der zweiten oder sogar einer dritten Runde, in der dann die Chefs die härtesten Nüsse knacken müssten. In allen vier Parteien wird um Verständnis geworben, dass es nun mal länger dauere und komplizierter sei, in Jahrzehnten gewachsene Gegnerschaften zu überwinden und unterschiedliche Sicht- und Sprechweisen zusammen zu bringen.

Doch schleicht sich bei manchem Verhandler inzwischen die Sorge ein, dass die Bürger da draußen das Verfahren missverstehen und es darum schneller leid sein könnten als die Polit-Profis in der Parlamentarischen Gesellschaft. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass Jamaika vor allem aus erhabenen Floskeln besteht. „Wir wollen die bestmögliche Sicherheit für unser Land und bürgerliche Freiheitsrechte in eine neue Balance bringen“, heißt so ein Obersatz im Papier zur Inneren Sicherheit – das bewegt sich zwischen gutem Willen und penetrantem Reklamesprech. Ob es der Satz je in eine Koalitionsvereinbarung schafft?

Wird es denn sicher eine geben?

Vordergründig scheint das keine Frage mehr zu sein – Parteitage und Vorstandsklausuren sind terminiert, die Frage nach Jamaika wirkt nur noch wie eine der Zeit. Doch der Eindruck könnte sich noch als voreilig erweisen. An diesem Donnerstag fällt vielleicht die Vorentscheidung, ob etwas wird aus der ersten Bundesregierung unter schwarz-gelb-grüner Flagge. Dann werden in der Verhandlungsrunde wieder die Themen aufgerufen, die vor einer Woche zum Knall führten: die Klima- und Energiepolitik und der Themenblock Migration, Integration und Flüchtlingspolitik. „Die zweite Wochenhälfte wird ein Teil der Wahrheit sein“, sagt CSU-Mann Scheuer. Eine endgültige Einigung erwartet auch er dann nicht. Aber es wird sich zeigen, ob die Beteiligten sich aufeinander zu bewegen wollen oder wieder in Maximalpositionen erstarren.

Immerhin scheinen die Verhandler für Überraschungen gut – selbst in der Cannabis-Frage: „Ich wurde auch gerade schon angesprochen von einem Delegationsmitglied, ob ich ihm einen Joint geben könnte“, frozzelt der Grüne Kellner am Montag. „Und es war kein Liberaler und kein Grüner.“

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