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Die Jamaika-Verhandler üben sich gerade im Orwellschen "Neusprech" - und erfinden zahlreiche Konfliktvermeidungsfloskeln.

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Jamaika-Verhandler: Orwells Erben

Georg Orwell war nie auf Jamaika, würde dort aber gerade gut hinpassen. Denn die Jamaika-Verhandler in Berlin üben sich gerade in "Neusprech". Eine Glosse.

Von Robert Birnbaum

George Orwell ist weit herumgekommen im Leben. Geboren in Birma, dem heutigen Myanmar, später dort als Kolonialpolizist, als Freiwilliger im spanischen Bürgerkrieg, ein Jahr in Marrakesch, zwei Jahre auf der Hebriden-Insel Jura. Dort schrieb er sein bekanntestes Buch: „1984“. Auf Jamaika war der Brite nie. Er würde da aber gerade gut hinpassen.

Denn die Jamaikaner in Berlin erweisen sich als würdige Nachfahren jener „Insoc“-Partei, die verderbliches Gedankengut mittels „Neusprech“ zu verdrängen suchte. Der Große Bruder verwirrte damit die Weltsicht seiner Untertanen, die kleinen Brüder und Schwestern in Berlin verfolgen bescheidenere Ziele, aber die Methode ist gleich: Nenne ein Ding nicht beim Namen, sondern klebe ihm ein anderes Etikett auf, damit es nicht so garstig und schrill in den Ohren klingt.

Union, FDP und Grüne bringen es auf eine hübsche Zahl solcher Konfliktvermeidungsfloskeln. Das fängt mit den Themenlisten an, die in den Sondierungspapieren mit „Die Frage“ beginnen. Allein im Papier zur Innen- und Rechtspolitik finden sich deren 15, von „Die Frage der Speicherung von Daten“ bis „Die Frage der Demokratieförderung“. Anderes – „Exzellenzinitiative berufliche Bildung“ kommt ohne Frage aus. Dahinter steckt ein Code: Bei allem, was „Die Frage“ ist, sind sich die vier nicht mal einig, ob sie es wollen.

Im Fach Landwirtschaft laufen die Unterhändler zu Hochleistung auf

Dann kommen die Tabu-Wörter. „Obergrenze“ war schon vorher verboten. „Kohleausstieg“ und „Enddatum“ sind dazugekommen. „Elektromobilität“ hätte es auch fast erwischt, wenn nicht die Grünen das vorgebliche Unwort im schwarz-gelben Koalitionsvertrag von NRW aufgestöbert hätten – ab da gab die Union ihren Widerstand als offensichtlich albern auf.

Zu Hochleistung aufgelaufen sind dafür die Unterhändler im Fach Landwirtschaft. „Pflanzenschutzmittel“ gilt bei Grünen als Agrarlobby-Neusprech, „Pestizide“ störte daraufhin die Ohren der Union. Das Zeug heißt jetzt auf jamaikanisch „chemische Wirkstoffe“. Überboten wird das nur noch von der Neuvokabel fürs gute alte Ehegattensplitting: Es firmiert unter den „negativen Auswirkungen des aktuellen Steuerrechts auf die ökonomische Ungleichheit zwischen Männern und Frauen“.

George Orwell wäre stolz, wenn auch nicht ganz zufrieden. Seine 1984er-Begriffsverwirrung verlief konsequenter: „Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke.“ Aber noch können die Jamaikaner dem Altmeister ihre Reverenz erweisen. Sie müssen nur am Ende alle rufen: „Große Schwester, wir lieben Dich!“

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