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Ausnahmezustand: Verwaltungsangestellte der vom Tsunami zerstörten Stadt Rikuzentakata. Sie arbeiten in einem Container und tragen weiße Arbeitsanzüge.

© Ulrike Scheffer

Japan-Tagebuch: Japan bereitet sich schon auf das nächste Beben vor

Innerhalb von zehn Jahren könnte es Tokio und andere Städte erneut treffen. Wird das Krisenmanagement dann besser funktionieren? Bilanz einer Reise.

Als das Bett zu zittern beginnt, ist es kurz nach drei Uhr in der Nacht. Mehrere Sekunden werde ich kräftig durchgeschüttelt, nach einer kurzen Pause geht es noch einmal los, diesmal aber deutlich weniger stark. Ein Erdbeben, keine Frage. Doch wie stark ist es? Im Hotel bleibt alles ruhig, es scheint also nicht so schlimm zu sein. 20 Minuten später ein paar weitere, kurze Erdstöße, das war’s. Für Japaner gehören solche Erlebnisse zum Alltag. Die meisten wachen davon nicht einmal auf. Außerdem sind sie bestens vorbereitet. Erdbebenwarnungen werden direkt aufs Handy verschickt. Die Hochhäuser in den Großstädten gehören zu den sichersten der Welt. Kinder lernen schon in der Schule, wie sie sich im Fall einer Naturkatastrophe verhalten müssen. Und die Hochgeschwindigkeitszüge werden automatisch ausgebremst, wenn ein Beben unmittelbar bevorsteht. Das hat selbst im vergangenen Jahr funktioniert, als die Erdstöße eine Stärke von 9,0 erreichten. Alle Züge wurden gestoppt, bevor sie entgleisen konnten. Wie also konnte es zu einer Katastrophe mit bis zu 20.000 Toten und dem Atomunfall in Fukushima überhaupt kommen? Und warum tut sich das Land so schwer bei der Bewältigung der Folgen?

Nach einer Woche in Japan, in der ich mit Journalisten aus sieben weiteren Ländern die Katastrophengebiete besucht habe, nach Gesprächen mit Regierungsvertretern, lokalen Behörden, Unternehmern und ganz normalen Bürgern, gibt es einige Erklärungen. Doch auch viele Fragezeichen sind geblieben.

Das Beben im vergangenen März war das schwerste, das je gemessen wurde, die folgende Flutwelle 15 bis 19 Meter hoch. Darauf waren die Barrieren in den betroffenen Küstenstädten nicht ausgelegt – und der Reaktor in Fukushima ebenfalls nicht. Zumindest dort, sagen Experten, hätten die Sicherheitsvorkehrungen allerdings deutlich besser sein können. Doch da gibt es noch etwas, das Japan in der Krise lähmte und nun auch den Wiederaufbau behindert: Japan fehlt es ganz offensichtlich an Führung. Und zwar nicht nur an höchster Stelle.

Im Kleinen haben auch wir das erlebt, als sich ein Termin beim Staatssekretär des Außenministeriums kurzfristig verzögerte, als also etwas Unvorhergesehenes die minutiöse Planung des Besuchs außer Kraft setzte. Die Mitarbeiter des Ministeriums, die sich um uns kümmern sollten, gerieten in helle Aufregung. Wer sollte jetzt entscheiden, was in der Zwischenzeit mit uns geschehen sollte? Hektisches Herumgerenne, Telefonate mit Vorgesetzten. Die Angst, etwas falsch zu machen, stand den meisten ins Gesicht geschrieben. Dabei ging es doch nur darum, in welchem Raum wir eine halbe Stunde warten sollten.

Szenen wie diese kann man in Japan überall erleben. Zum Teil hängt dies sicher mit dem in Japans Behörden und auch in den meisten Unternehmen noch immer vorherrschenden Senioritätsprinzip zusammen. Aus Respekt vor ihrem Alter bekommen betagte Mitarbeiter mitunter selbst dann hohe Positionen, wenn sie diesen fachlich gar nicht gewachsen sind. Im Alltag wird ihnen oft eine Art „Sidekick“ zur Seite gestellt, ein jüngerer Untergebener, der sich auskennt. Schnelle Entscheidungen kommen so allerdings selten zustande.

Ulrike Scheffer
Ulrike Scheffer

© Tsp

Premierminister Yoshihiko Noda hat in einer Mitteilung zum Jahrestag des Erdbebens betont, sein Land werde sich „von einer Politik verabschieden, die keine Entscheidungen trifft“. Noch merkt man davon nichts. Japans Zeitungen berichten in diesen Tagen ausführlich über das Gezerre zwischen Tokio und den regionalen Behörden, ob und wann die derzeit zur Wartung abgeschalteten Atomkraftwerke des Landes wieder ans Netz gehen sollen, wobei jede Seite die jeweils andere in der Pflicht sieht, die Dinge in die Hand zu nehmen. Beim Wiederaufbau der vom Tsunami zerstörten Küstenregionen spielt sich ein ähnliches Verantwortungs-Ping-Pong ab. Welche Folgen diese Mutlosigkeit unmittelbar nach dem Beben hatte, hat Hisashi Suzuki, Chefredakteur des „Fukushima Minpo“, der größten Zeitung der Präfektur Fukushima, bei einer internationalen Medienkonferenz zur Berichterstattung über das Erdbeben beschrieben. Tagelang seien die Menschen in der Region rund um das Atomkraftwerk im Unklaren über die Situation gelassen worden, weil sich niemand zuständig gefühlt habe. Keine Informationen, keine Vorkehrungen. „Die Angst war riesengroß.“

Man kann den Japanern nur wünschen, dass sie möglichst bald herausfinden aus ihrem Lähmungszustand. Denn die nächste Krise steht praktisch schon vor der Tür. In den kommenden 30 Jahren wird ein sehr schweres Beben in Tokio erwartet. Viele Experten gehen sogar davon aus, dass der große Schlag schon in zehn Jahren kommen könnte – dass möglicherweise sogar eine ganze Bebenserie das Land an mehreren Orten gleichzeitig heimsuchen könnte. Chefredakteur Suzuki fürchtet dann auch für das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi neue Katastrophenszenarien: „Wenn es ein weiteres schweres Beben gibt, wird der vierte Reaktor ebenfalls überflutet. Dann haben wir einen neuen Gau.“

Japans Regierung will die Ereignisse des vergangenen Jahres aufarbeiten und hat Journalisten aus aller Welt zu einer Rundreise eingeladen. Für den Tagesspiegel ist Ulrike Scheffer exklusiv dabei. Lesen Sie hier ihre anderen Berichte.

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