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Politik: Jetzt erst recht

Trotz der Terroranschläge sind die Spanier wählen gegangen – viele von ihnen aus Wut über die Regierung

DIE WAHL IN SPANIEN

Der Empfang war alles andere als herzlich: Als der Spitzenkandidat der konservativen Volkspartei, Mariano Rajoy (48), am Sonntagvormittag in seinem Wahllokal in der Hauptstadt Madrid seine Stimme abgeben wollte, schallten ihm Pfiffe und Rufe entgegnen: „Lügner, Lügner“. Und: „Manipulation.“ Vor allem junge Demonstranten riefen vor seinem Wahllokal Sprüche wie „Ihr Faschisten, ihr seid die Terroristen“. Einige forderten den sofortigen Abzug der im Irak stationierten spanischen Soldaten. Anhänger der Volkspartei PP drückten dagegen vor dem Wahllokal ihre Unterstützung für Rajoy aus.

Schon in der Nacht zum Wahltag hatten zehntausende Menschen vor den Parteizentralen der Konservativen im ganzen Land gegen die Informationspolitik nach den Terroranschlägen demonstriert. „Wir wollen endlich die Wahrheit wissen“, riefen sie und beschuldigten Rajoy sowie seine konservative Regierungspartei, aus wahltaktischen Gründen den wahrscheinlichen islamistischen Hintergrund des Massakers von Madrid tagelang vernebelt zu haben. Im Westen Spaniens ging ein Parteibüro der Konservativen in Flammen auf.

„Das Ziel der Regierung war, dass die Lüge der Täterschaft der Eta erst nach der Wahl entlarvt wird“, kommentiert die Tageszeitung „El Periodico“. Rajoy und der scheidende konservative Regierungschef Jose Maria Aznar (51) hatten tagelang behauptet, dass alle Spuren auf die baskische Terror-Organisation Eta weisen.

Die Chefredakteure der spanischen Medien waren am Terrortag von Aznar persönlich auf die Eta-Linie eingeschworen worden. Auslandskorrespondenten wurden von Regierungssprechern unter Druck gesetzt. Die spanischen Botschaften im Ausland hatten nach einem Bericht der Tageszeitung „El Pais“ angewiesen, in allen offiziellen Gesprächen in ihren Gastländern die Eta-These zu verbreiten. Dabei hatte die Polizei schon Stunden nach dem Attentat am Donnerstagmorgen handfeste Hinweise auf arabische Terroristen.

Die Trauer um die 200 Toten des schlimmsten Terroranschlages in der spanischen Geschichte mischt sich an diesem Wahlwochenende mit der Wut und der Sorge, dass Spaniens - im eigenen Volk höchst umstrittene - Unterstützung des Irakkrieges das Land zum Bombenziel arabischer Terroristen gemacht hat. „Aznar, deine Hilfe für George W. Bush hast du teuer bezahlt: 200 Tote“, schrieb jemand auf einem Protestschild vor der Machtzentrale der Konservativen in Madrid. Die Parlamentswahl wurde im gesamten Land von einem Großaufgebot an Sicherheitskräften überwacht.

An die Fassaden etlicher Wahllokale im ganzen Land hatten Unbekannte in der Nacht zum Wahltag „Nein zum Krieg“ gepinselt. Die Parolen werden am Morgen dann eiligst von staatlichen Anstreicherkommandos übermalt. Demonstranten, die sich mit Protestplakaten vor Wahlbüros platzieren, werden festgenommen. In der nordspanischen Stadt Pamplona erschießt ein Polizist einen Bäcker, der sich weigerte, in seinem Laden ein Protestschild „Eta, nein“ aufzuhängen.

Die Spannungen an diesem Wahltag, 72 Stunden nach dem Tag des Terrors, sind groß. So groß, dass manche Kommentatoren sagen: „Vielleicht wäre es besser gewesen, die Wahl zu verschieben.“ In der Tat schien es am Sonntag so, als stünden viele noch unter Schock. Nicht nur Ana Botella, die Ehefrau des bisherigen Regierungschefs Aznar, hatte Tränen in den Augen, als sie ihren Wahlzettel in die Urne wirft. An vielen Hemden und Blusen stecken kleine schwarze Trauerschleifen, die Gesichtszüge der Wähler sind ernst. Die furchtbaren Terroranschläge halten die Spanier jedoch nicht davon ab, über ihre politische Zukunft abzustimmen. „Jetzt erst recht", sagt Paloma und wirft ihr Zettelchen in die transparente Urne. Wen sie gewählt habe? „Den Frieden“, sagt sie und zieht mit ihren beiden kleinen Kindern von dannen.

Das Fernsehen zeigt Opfer des Terroranschlages, die mit Krankenwagen zum Wahllokal gefahren werden. Der Spitzenmann der Opposition, der Sozialdemokrat Jose Luis Zapatero, nutzt die gespannte Lage, um für eine neue Ära des „Vertrauens und der Glaubwürdigkeit“ zu werben. Zwölf Stunden vor Beginn des Wahlgangs erlebt Spaniens Fußball-Kathedrale, das Bernabeu-Stadion von Real Madrid, ein gespenstisches Spiel: Das „königliche" Star-Ensemble und das gegnerische Team aus Zaragoza tragen vor dem Anpfiff eine riesige Trauerschleife in die Arena. 90 Minuten lang ist es fast totenstill im ausverkauften Bernabeu-Stadion. Auf manchen Sitzen brennen Kerzen. In der Südkurve machen sich Fans mit einem Transparent Mut: „Spanien gibt nicht auf.“

Ralph Schulze[Madrid]

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