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Jörg Schönbohm

© dpa

Jörg Schönbohm im Interview: „Das Schweigen hat System“

Der CDU-Innenminister Brandenburgs über das Erbe der DDR, Fehler der deutschen Einheit und Parallelen zu 1968

2009 nehmen Sie Abschied von der Politik. Dann wird der Fall der Mauer 20 Jahre her sein. Was bedeutet das für Sie?

Dankbarkeit, aber auch Enttäuschung. Dankbarkeit für das Geschenk der Einheit, das uns die Geschichte gemacht hat. Enttäuschung, weil das Zusammenwachsen der beiden Teile unserer Nation so lange dauert. Anfang der neunziger Jahre habe ich fest daran geglaubt, dass nun – wo die Deutschen von Ost nach West und umgekehrt gehen können – das Zusammenwachsen in vielleicht 15 Jahren bewältigt sein wird und wir uns als Nation begreifen. Nun muss ich feststellen, wie sehr ich mich geirrt habe.

Wann ist die Erkenntnis gereift?

Das war Mitte der neunziger Jahre. Nach vielen Gesprächen, die ich in Brandenburg mit Menschen unterschiedlichster Herkunft und jeden Alters geführt habe, ist mir klar geworden, dass Ostdeutsche die Einheit zwar äußerlich angenommen haben, aber innerlich distanziert bleiben. Und was die Westdeutschen betrifft: Da habe ich ein erschreckendes Desinteresse gespürt. Es gab Ende der Neunziger noch zu viele Politiker, die noch nie in Ostdeutschland waren. Wie soll man auf diese Weise als ein Volk, ein Staat und eine Gesellschaft zusammenwachsen? Mir macht es große Sorgen, dass wir zwar ein Volk und ein Staat, aber auch immer noch zwei Gesellschaften sind. Das müssen wir gemeinsam überwinden.

Was trennt die beiden Gesellschaften?

Ich stoße im Osten nach wie vor auf eine tief sitzende Ablehnung unseres marktwirtschaftlichen Systems. Das hat wahrscheinlich etwas mit dem ungeheuren Veränderungsdruck zu tun, dem die Ostdeutschen Anfangs ausgesetzt waren. Arbeitslosigkeit und Wohlstandsängste sind unter diesem Druck rasch zu generellen Systemfragen erklärt worden. Und das blieb haften: Marktwirtschaft gleich blanke Existenznot.

Eine solche Erfahrung haben viele wirklich gemacht. Was werfen Sie ihnen vor?

Gar nichts. Die Ursachen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs wurden nicht klar benannt: Die DDR hat ein mit Milliardenbeträgen verschuldetes, nicht wettbewerbsfähiges Wirtschaftssystem hinterlassen. Die DDR war zahlungsunfähig. An dem ökonomischen Schock Anfang der Neunziger war nicht das Westsystem schuld, sondern das Fortbrechen des Ostmarktes und die fehlende Wettbewerbsfähigkeit. Dieses Gefühl des Verlierens besteht bis heute und überwiegt die Freude darüber, dass wir vereint sind und inzwischen gemeinsam viel erreicht haben.

Und der Westen?

Neben dem Desinteresse beklage ich hier einen zunehmenden Unwillen zum gegenseitigen Verstehen. Wenn Jahrzehntelang Milliardenbeträge in den Osten geschickt werden, verfällt man leicht in die Rolle des guten Onkels. Wenn das Geld – scheinbar – nicht zum gewünschten Erfolg führt, dann gibt es Frustration. Dann sagen die Leute eben: „Wenn wir die da drüben schon durchfüttern, dann sollen sie unser Geld nicht auch noch sinnlos verballern.“ Es gibt wenig Anerkennung für die Leistungen der Menschen in der Gestaltung des Umbruchs.

Fast 20 Jahre Einheit: Man sollte meinen, die Unterschiede verwachsen sich.

Ich will nichts verabsolutieren. Aber ich begegne nach wie vor dem Trennenden, dem Unterschiedlichen häufiger als dem Gemeinsamen. Das geht hinein bis in die Umgangsformen, die Bereitschaft, ein berufliches Risiko zu übernehmen. In Westdeutschland haben wir den Streit, die Auseinandersetzung in einer Sache, als wichtiges Element der Demokratie gepflegt. Bei den Ostdeutschen haben Partei und Staatsmacht versucht, das Vertreten eines eigenen kritischen Standpunktes zu verhindern. Das war systematische Aberziehung. Das hat bis heute Nachwirkungen selbst in der Kindergeneration, die die DDR überhaupt nicht mehr erlebt hat. Der Streit wird als Angriff auf die Persönlichkeit gemieden. Sehr oft erlebe ich deshalb einen Rückzug der Menschen aus oder Ablehnung der Gesellschaft. In jedem Fall ist dies der Demokratie und auch für das Zusammenwachsen der beiden Teile des deutschen Volkes nicht förderlich. Wir müssten gemeinsam auch mehr streiten, ohne beleidigt zu sein.

Sie beschreiben eine Entbürgerlichung durch die DDR, die heute noch nachwirkt.

Lassen Sie mich das so beschreiben: Bis zur Einheit sind rund 3,4 Millionen Menschen aus der DDR geflohen. Nach 1990 sind noch einmal rund eine Million aus ihrer Heimat gegangen. Das waren überwiegend Leistungsträger. Das waren Handwerker, Ingenieure, Ärzte – das Bürgertum. Es macht sich bemerkbar, wenn das Bürgertum, wenn die Elite einer Gesellschaft, fort ist. Es wurde durch eine sozialistische Elite ersetzt. Das ist in Ostdeutschland bis heute zu spüren.

Woran fühlt Jörg Schönbohm die Entbürgerlichung des Ostens?

Ein solches Gefühl umfassend zu beschreiben, ist nicht möglich. Und wahrscheinlich kann ich das auch nicht, ohne falsch verstanden zu werden. Das Gefühl äußert sich im zwischenmenschlichen Umgang, der manchmal schwierig ist. Die Entkirchlichung ist ein Teil dieser Entwicklung.

Welche Folgen haben diese unterschiedlichen Umgangsformen?

Unter anderem bei der Besetzung von wichtigen Funktionen in Wirtschaft und Gesellschaft. Da ist die Zahl der geeigneten ostdeutschen Bewerber zum Teil begrenzt. Die Kriterien sind unterschiedlich und auch das Menschenbild. Oft werden Westdeutsche ausgewählt, was sich am Ende natürlich nicht gerade positiv auf das Zusammenwachsen von Ost und West auswirkt. Wir spüren das bis hinein in die Parteien. Der Landesverband der CDU in Brandenburg hat etwa die Mitgliederstärke eines Kreisverbandes in Recklinghausen. Die Menschen beteiligen sich viel weniger an demokratischen Prozessen. Es gelingt uns zu wenig, sie für die Demokratie zu erwärmen.

Sind anfangs falsche Botschafter der Demokratie in den Osten gegangen?

Es gab sehr viel Idealismus und Enthusiasmus. Aber es hat zu viele gegeben, die im Westen wenig geworden wären, im Osten jedoch gute Karrieren gemacht haben und durch Mittelmäßigkeit den Ruf von Marktwirtschaft und Demokratie geschädigt haben. Aber das ist heute nicht mehr das Problem.

Sie haben eine „Proletarisierung“ der Ostdeutschen dafür verantwortlich gemacht, dass dort Anfälligkeit für Gewalt weiter verbreitet ist als anderswo. Damals wurden Sie kritisiert. Dürfen Westdeutsche sich so nicht äußern?

Ich habe damals sehr bedauert, wie ich verstanden worden bin. Ich habe unterschätzt, wie viele Menschen ich in meiner Heimat Brandenburg damit verletzt habe. Aber das, was damals geschehen ist, zeigt die Distanz. Ich wäre bei der Wahl des Wortes Proletarier nie auf die Idee gekommen, dass dies einen so herabwürdigenden Eindruck bei Ostdeutschen hinterlässt.

Abgesehen von der Wortwahl stehen Sie jedoch bis heute dazu: Die Ostdeutschen sind anders als die Westdeutschen.

Ich habe die Auswirkungen von 40 Jahren Indoktrination durch den Kommunismus unterschätzt. Anfangs hat mich das unduldsam gemacht. Ich habe einfach zu viel erwartet. Mittlerweile glaube ich, dass Deutschland nur zusammenwachsen kann, wenn wir die gegenseitige Sprachlosigkeit überwinden, wenn wir das Trennende benennen und angstfrei darüber reden können und wollen.

Worüber sollen wir reden?

Über die Auswirkungen von 40 Jahren Trennung – und vor allem über die Auswirkungen von 40 Jahren DDR! Die Menschen in Brandenburg haben Erfahrungen und Erlebnisse, die sie in ihrem Leben in der DDR gemacht haben. Diese Erfahrungen prägen ihr Menschenbild, prägen ihr Leben in der Demokratie, und sie geben sie weiter an ihre Kinder. Über vieles Unangenehme wird dabei aber geschwiegen. Auch öffentlich. Deutschland hat schon einmal über eine Diktatur geschwiegen. Das hat später – 1968 – schlimme Folgen gehabt. Ich selbst bin mehrfach in den letzten Jahren in Situationen geraten, in denen ich dafür an den Pranger gestellt wurde, weil ich geschichtliche Wahrheiten über die DDR und die Sowjetunion ausgesprochen habe. Ich musste feststellen: Über die Verantwortung des Einzelnen in der Diktatur wird heute in Ostdeutschland so eisern geschwiegen – und das ist falsch.

Hat das Schweigen System?

Ich glaube ja. Warum werden bei uns in Brandenburg so wenige Straßen nach Demokraten benannt? Warum spricht niemand darüber, dass Kommunisten, deren Namen viele Straßen noch immer tragen, heute keine Vorbilder sein können? Ich will ja gar nicht jede Straße umtaufen, die den Namen von Karl Marx oder Clara Zetkin trägt. Warum benennen wir nicht aber Straßen nach Männern und Frauen, die dem DDR-System widerstanden, die die friedliche Revolution vorangetrieben haben? Oder, warum gibt es eigentlich keine Konrad-Adenauer-Straße?

Ist das Verherrlichung des Sozialismus?

Oftmals geschieht das nicht bewusst. Man meint, dass nicht alles schlecht in der DDR war, und: Worüber sollen wir noch sprechen. Wir haben Wichtigeres zu tun.

Eine verständliche Reaktion der Menschen, oder?

Verständlich ist das, aber gefährlich für die Zukunft. Wir sind das einzige Volk, das nacheinander unter zwei totalitären Systemen gelebt hat. Wir haben gemerkt, was uns das Verschweigen von Wahrheiten gekostet hat. Und wir sind drauf und dran, den gleichen Fehler noch einmal zu machen. Das ist schlecht für die Entwicklung unseres demokratischen Zusammenlebens. Wie sollen unsere Kinder und Enkel die Demokratie gestalten, wenn wir ihnen wichtige Informationen über unsere Vergangenheit vorenthalten? Auf solche Fragen hört man oft eine gefährliche Antwort: Daran war das System schuld. Diese Haltung dürfen wir nicht zulassen. Denn es war kein System, das Menschen an der innerdeutschen Grenze erschossen hat, kein System, das Nachbarn bespitzelt hat. Das waren Menschen. Haltungen und Verhaltensweisen, die bis heute wirken.

Wie soll die DDR-Geschichte aufgearbeitet werden?

Parteien, Gewerkschaften und den Kirchen kommt dabei eine große Bedeutung zu; Schule und Elternhaus nicht zu vergessen. Ich glaube, Anfang der neunziger Jahre sind Fehler gemacht worden. Aus Unterstützung beim Aufbau demokratischer Strukturen ist leider zu oft belehrende Besserwisserei entstanden. Die Tatsache, dass die Ostdeutschen ihre Freiheit nicht von außen erhielten, sondern den Umbruch selbst erkämpften, ist nicht ausreichend gewürdigt worden. Das hat die Aufbruchstimmung, die es anfangs im Osten gegeben hat, gebremst. Die Menschen hatten das Gefühl, ihre Lebenserfahrungen werden nicht gewürdigt. Enttäuscht haben sie sich danach zurückgezogen. So konnte sich das Bemühen, unser Gemeinwesen aufzubauen, nicht entfalten. Bei vielen Menschen hat das dazu geführt, den Staat als etwas Fremdes und Bedrohliches zu empfinden. Mit einer freien bürgerlichen Gesellschaft hat das wenig zu tun.

Welche Versäumnisse werfen Sie Kirchen und Parteien vor?

Beide haben diesen Prozess nicht aufmerksam genug analysiert. Auch Kirchen und Parteien haben sich nicht so intensiv mit dem beschäftigt, was Diktatur für eine Gesellschaft bedeutet. Sie haben auf das Vergessen gesetzt – genauso wie übrigens auch die Gewerkschaften.

Was raten Sie nun?

Ich appelliere an die gesellschaftlichen Kräfte, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Nicht im Sinn von Schuldzuweisung, sondern um zu erfahren und zu lernen. Besonders intensiv muss eine kritische Auseinandersetzung im Bildungsbereich stattfinden. Es kann nicht sein, dass bei Brandenburger Schülern der Eindruck entsteht, dass die Stasi ein ganz normaler Geheimdienst war und Rechtsextremismus ein Ergebnis von Marktwirtschaft ist, dass deshalb die DDR antifaschistisch war und es Ausländerfeindlichkeit nicht gab.

Anfang der neunziger Jahre haben Sie geglaubt, die Einheit werde 15 Jahre brauchen. Wie sieht Ihre Prognose jetzt aus?

Wann betrachtet man die Einheit als vollendet? Wir haben in Ostdeutschland heute zum Teil schon Infrastrukturen, die moderner sind als in Westdeutschland. Bei der Angleichung der Lebensverhältnisse ist das Tempo eher bescheiden. Aber es geht um mehr. Jetzt während der Fußball-Europameisterschaft ist die Einheit zum Beispiel schon vollendet. Wenn es um politische Ereignisse geht, Bundeswehreinsätze, ein unvoreingenommenes Verhältnis zu Amerika etwa, dann wird es noch sehr lange dauern, bis die Ost-West-Spaltung vorüber ist. 30 Jahre vielleicht. Vielleicht auch mehr.

Das Gespräch führten Stephan Haselberger und Antje Sirleschtov. Das Foto machte Mike Wolff.

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