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Politik: Johannes Rau wird 70: Geburtstag eines Quereinsteigers

Kann ein Stadtkind Landwirtschaftsministerin werden? Im Blick auf Renate Künast hat man in diesen Tagen so gefragt.

Kann ein Stadtkind Landwirtschaftsministerin werden? Im Blick auf Renate Künast hat man in diesen Tagen so gefragt. Kann jemand ohne Abitur und Universitätsexamen Wissenschaftsminister werden? So hieß die Frage im Jahr 1970. Sie bezog sich auf Johannes Rau. Im Alter von 39 Jahren wurde er Minister für Wissenschaft und Forschung in Nordrhein-Westfalen. Schon zwölf Jahre gehörte er dem Landtag an. Das Amt des Fraktionsvorsitzenden hatte er damals bereits erreicht, das des Oberbürgermeisters von Wuppertal auch.

Dabei hatte er nicht in der SPD begonnen. Johannes Rau gehört zu der Gruppe evangelischer Christen, die mit Gustav Heinemann 1952 die Gesamtdeutsche Volkspartei gründeten und nach deren Auflösung 1957 zur SPD übergingen. Für einen "Quereinsteiger" hat Johannes Rau erstaunlich schnell Karriere in der SPD gemacht; die Kontinuität seines politischen Wegs ist beeindruckend. Zwanzig Jahre lang, von 1978 bis 1998, war er Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Fast so lange war er stellvertretender Vorsitzender der SPD. Immer behält er die Menschen im Blick. Seiner Leidenschaft, Anekdoten zu erzählen, muss er inzwischen Zügel anlegen. In der SPD war er fest verankert, blickte aber zugleich über sie hinaus.

Die Freude war ihm anzusehen, als er bei der Ministerpräsidentenwahl des Jahres 1985 mehr Stimmen erhielt, als die SPD Abgeordnete zählte. An diesem 5. Juni 1985 kostete er den politischen Triumph freilich nicht lange aus; stattdessen predigte er zur Eröffnung des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Düsseldorf. Zu den Hoffnungen, die er dabei äußerte, gehörte auch, dass diese Welt "ein wenig fröhlicher wird, weil sie eine Welt ist, die nicht zum Teufel geht, sondern Zukunft hat." Die Zuversicht, dass die Welt nicht im Verhängnis lebt, verbindet sich bei Johannes Rau mit der Einsicht, dass wir über diese Welt genauso wenig verfügen wie über unser eigenes Leben. Verantwortlich zu handeln, sich selbst und andere aber nicht tierisch ernst zu nehmen, kann man von ihm lernen.

Keiner hatte Grund zum Zweifel, als der neu gewählte Bundespräsident 1999 ankündigte, er wolle "für die Deutschen sprechen". Denn das sagte jemand, der in der Zusammengehörigkeit der Deutschen schon eine zentrale Aufgabe sah, als es die DDR noch gab und nur wenige mit einer Wiedervereinigung rechneten. Für seine Kontakte in die DDR hat Johannes Rau die Verbindungen genutzt, die einem in seiner Kirche engagierten evangelischen Christen offen standen. Politische Beanspruchung hat nie dazu geführt, dass es ihm für die christliche Existenz und für kirchliche Ämter an Zeit fehlte. Die kirchliche Zeitgeschichte des letzten halben Jahrhunderts - nicht nur im evangelischen Bereich - hat er wie wenige im Sinn. Dass er Kraft aus dem christlichen Glauben schöpft, verheimlicht er nicht. Den meisten Politikern, auch vielen Predigern ist er an Bibelkenntnis überlegen. Aber ihm hat es nie an Respekt denen gegenüber gefehlt, die das Fundament für ihr Leben anderswo suchen. Zunächst beiläufig hat er davon gesprochen, er wolle "versöhnen statt spalten". Für einen Wahlkampf war die Formel ungeeignet, aber als Lebensmotto treffend.

Dieses Lebensmotto spiegelt sich auch in der Wirksamkeit des Bundespräsidenten, vor allem in dem beharrlichen, oft unspektakulären Bemühen, nicht nur "für die Deutschen zu sprechen", sondern zugleich "Minderheiten zur Sprache zu verhelfen". Am 9. November 2000 konnte er das vor dem Brandenburger Tor im Angesicht einer viertel Million tun. Er repräsentierte ein Selbstverständnis der Deutschen, das an der gleichen Würde jeder menschlichen Person orientiert ist; und er machte sich zum Anwalt von Minderheiten, die in unserem Land noch immer von Ausgrenzung bedroht sind. Politische Existenz und christliche Verantwortung berühren sich besonders eng bei einem Thema, dem Johannes Rau eine ungewöhnlich beharrliche Aufmerksamkeit zugewandt hat, dem Verhältnis zu Israel. Schon vor langer Zeit hat er dazu gesagt: "Wer wie ich in den 30er Jahren aufgewachsen und in den 40ern erwachsen geworden ist, der wird Schuld und Verantwortung niemals los, die unser Volk gegenüber seinen jüdischen Mitbürgern und der jüdischen Bevölkerung unserer Nachbarn auf sich geladen hat." In aller Form hat er sich darauf verpflichtet, sich in jedem politischen Amt zu der besonderen Beziehung Deutschlands zum Staat Israel zu bekennen. Auch andere Politiker ohne seinen biographischen Hintergrund sollten ihm darin folgen.

Die Demokratie verleiht Herrschaft auf Zeit. Das schließt nicht aus, dass einem Menschen politische Ämter auf lange Zeit übertragen werden. So wächst Vertrauen. Johannes Rau bringt ein ungewöhnliches Vertrauenskapital in das Amt des Bundespräsidenten ein. Es liegt auch an uns, dieses Kapital zu nutzen.

Wolfgang Huber

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