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Politik: Josef Felder: Der letzte noch lebende Reichstagsabgeordnete wird 100

Nun hat er auch den letzten Parteiauftrag erfüllt. Vor zehn Jahren, als Josef Felder 90 wurde, rief ihm der bayerische SPD-Vorsitzende Rudi Schöfberger fröhlich zu, ein Sozi, der nicht 100 werde, wirke parteischädigend.

Nun hat er auch den letzten Parteiauftrag erfüllt. Vor zehn Jahren, als Josef Felder 90 wurde, rief ihm der bayerische SPD-Vorsitzende Rudi Schöfberger fröhlich zu, ein Sozi, der nicht 100 werde, wirke parteischädigend. Na, antwortete der Jubilar, ob er diesem hohen Anspruch wohl gerecht werden könne? Heute feiert Felder, der letzte lebende Reichstagsabgeordnete, tatsächlich seinen 100. Geburtstag - weiter hellwach, wenn auch durch einen Schlaganfall seit zwei Jahren an den Rollstuhl gefesselt. Es gilt einmal mehr, was er schon bei vielen Jubiläen, Preisverleihungen, Ehrungen formuliert hat: "Somit kann ich sagen, dass ich ein unerhört erfülltes Leben hatte, das ich selbst kaum zu begreifen vermag."

Ein Leben, das die deutsche Geschichte des Jahrhunderts nahezu vollständig widerspiegelt. Im schwäbischen Mindelheim wurde der Achtjährige von einem seltsamen Deutschlehrer namens Julius Streicher unterrichtet, der sich später zu einem der primitivsten antisemitischen Ideologen entwickelte. Als 15-jähriger Druckerlehrling produzierte Felder Extrablätter mit Siegesmeldungen aus dem Krieg, wandte sich aber schnell vom Hurra-Patriotismus ab und war mit Sympathie dabei, als der humanistische Sozialist Kurt Eisner im November 1918 auf der Münchner Theresienwiese den Freistaat Bayern proklamierte und die Wittelsbacher-Dynastie stürzte. Doch als Soldaten der Menge die ersten Maschinengewehre herausreichten und der Marsch auf das Oberwiesenfeld begann, ließ er sich von seinem Vater zur Vernunft mahnen. Der Weg in die politische Mitte war vorgezeichnet; Felder kehrte der USPD den Rücken und trat der SPD bei, die ihn 1923 aufnahm, erfreut über den Einstand eines politischen Naturtalents.

Ein Jahr später war Felder Politik-Redakteur der sozialdemokratischen "Schwäbischen Volkszeitung", organisierte die Parteijugend, attackierte die Nationalsozialisten als Versammlungsredner in Altbayern und Schwaben, wurde Stadtrat in Augsburg und, mit 32, einer der jüngsten sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten.

Als der Reichstag am 23. März 1933 über Hitlers Ermächtigungsgesetz abstimmte, waren von den 120 sozialdemokratischen Abgeordneten 26 bereits emigiriert oder untergetaucht. Felder gehörte zu jenen 94, die geblieben waren und in der Kroll-Oper zwischen den Spalieren von bewaffneten SA- und SS-Männern, unter gezischten Drohungen und primitiven Witzen, gegen das Gesetz votierten. Sein Instinkt hat ihn nicht getrogen: "Wir wussten, das ist etwas, was uns im Urteil der Geschichte gutgeschrieben würde." Er hat, wohl seine größte Genugtuung, diese Gutschrift anders als viele seiner Genossen miterlebt, hochgeehrt, politisch aktiv bis ins hohe Alter, analysierend, übersprudelnd vor präzisen Erinnerungen.

Am 10. Juni 1933 traf sich die SPD-Fraktion in Berlin unter Leitung Kurt Schumachers noch einmal zu einer letzten Sitzung, Felder stenografierte und tippte ein konspiratives Protokoll. Knapp zwei Wochen später wurde die Partei verboten, doch Felder war viel zu bekannt, um auf ein unbehelligtes Weiterleben in Deutschland hoffen zu können: "KZ oder Flucht, es blieb nichts anderes übrig." Er verschwand mit seinem Bruder, einem Bergsteiger, auf abenteuerlichen Pfaden durchs Wettersteingebirge nach Österreich, kehrte zurück, schrieb Flugblätter, wurde denunziert, verhaftet und nach Dachau gebracht. Zwei Jahre Leben am Abgrund, geprägt von sadistischen Quälereien, ständiger Todesangst: Ein SS-Mann knüpfte in der Zelle einen Strick an und forderte ihn auf, sich zu erhängen, "in einer Stunde komme ich und helfe nach". Doch er lebte weiter. 1936 wurde er von dem Textilunternehmer Willy Bogner als Buchhalter angefordert, unterschrieb am Lagertor ein Revers, nicht mehr politisch tätig zu sein, und überlebte die braunen Jahre, ständig bespitzelt, aber ohne weitere Inhaftierungen.

Nach dem Krieg hatte Felder zunächst wenig Glück. Die Amerikaner in Augsburg übergingen ihn bei der Vergabe der Zeitungslizenzen, bis er 1946 Mitherausgeber des "Südost-Kuriers" in Bad Reichenhall wurde und sich schnell wieder mit mutigem Eintreten für die junge Demokratie profilierte. Dies bescheinigte ihm auch der bayerische Ministerpräsident Hoegner 1955 - doch der Anlass der Erklärung war die Einstellung der wirtschaftlich gescheiterten Zeitung. Die SPD rief Felder nach Bonn, wo er als Chefredakteur den "Vorwärts" auf Kurs brachte und schließlich 1957 in den Bundestag einzog. Dort saß er bis 1969 - und musste zum Ende seiner politischen Laufbahn noch einmal einen schweren Konflikt durchstehen: Die Zustimmung zu den Notstandsgesetzen rang er sich gegen innere Überzeugung ab.

Die Jahre bis zur deutschen Einheit verbrachte Josef Felder als lebende Lektion in Sachen Politik, referierte in Akademien und Schulen, warnte immer wieder vor einem Aufflammen des Nationalsozialismus und der Umwandlung der Bundeswehr in eine Berufsarmee, stets verhalten optimistisch, aber voller Sorge über die Folgen der zunehmenden Arbeitslosigkeit. 1990 schließlich saß er an der Seite des Bundespräsidenten im Reichstagsgebäude und erlebte "einen Moment, von dem ich lange geträumt habe": Die Abgeordneten des vereinigten Deutschlands überschütteten ihn mit minutenlangem Applaus. Neun Jahre später, als das Haus wieder eröffnet wurde, hätte man ihm gern eine Wiederholung dieses Triumphs gegönnt, doch er musste in München bleiben, gezeichnet vom Schlaganfall.

In München wird er auch heute Vormittag sein, wenn die bayerische SPD ihn, ihren Ehrenvorsitzenden, mit einer Großveranstaltung feiert. Wolfgang Thierse wird eine Rede halten, und die Künstler Ceija Stojka und Willy Resetarits erhalten einen Preis für Gemeinwohl und Zivilcourage, der, natürlich, den Namen Josef Felders trägt. Gerhard Schröder würdigte ihn jetzt mit den Worten "die deutsche Sozialdemokratie ist stolz darauf, dass du einer von ihnen bist". Und auch Johannes Rau hat ihm einen Brief geschrieben: "Du hast die Vernunft, den Schrecken und die Barbarei gesehen, Du hast Dich aber auch immer auf der Seite der Vernunft, der Menschlichkeit, auf der Seite der Gerechtigkeit und der Solidarität engagiert."

Schließlich gibt es pünktlich zum Geburtstag ein Buch, herausgegeben von Nele Haasen: "Warum ich Nein sagte" (Pendo, Zürich). Es enthält lange Zitate, Reden, Dokumente und spiegelt die Lebensgeschichte dieses bedeutenden Demokraten. Memoiren sind es nicht, denn die hat er nie geschrieben: "So wichtig war der Felder doch nicht." Das sieht die Geschichte inzwischen ein wenig anders.

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