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Israelische Flaggen über einem Haus im Osten Jerusalems, im Hintergrund die Al-Aqsa-Moschee.

© AFP

Jüdischer Extremismus in Israel: Wie im Alten Testament

In Israel sind zunehmend kritische Stimmen zu hören, die vor jüdischem Extremismus warnen - woher kommt er und wie gefährlich ist er? Ein Essay.

Blick zurück. Die Überzeugung des Theodor Herzl, dem geistigen Vater des Zionismus, ist einfach: „Ich meine, die Juden werden immer genug Feinde haben, wie jede andere Nation. Wenn sie aber auf ihrem eigenen Boden sitzen, können sie nie mehr in alle Welt zerstreut werden.“

Dieser Satz aus dem Jahr 1896 in seinem Werk „Der Judenstaat“ sollte sich als die Gründungsidee für den Staat Israel erweisen. Entstehen sollte er in Palästina, „unserer unvergesslichen historischen Heimat“. Dass es in dieser neuen jüdischen Heimstatt auch arabische Bewohner gab, erwähnt Herzl in seinem Buch nicht.

Nebulös formuliert er nur: „Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen“ Und verspricht nur den Christen, sich um deren heilige Stätten zu kümmern. „Wir würden die Ehrenwache um die heiligen Stätten bilden und mit unserer Existenz für die Erfüllung dieser Pflicht haften“. Dass Jerusalem auch mit der Al-Aqsa-Moschee und dem Felsendom das drittwichtigste Heiligtum des Islam beherbergt, war ihm möglicherweise nicht einmal bekannt.

Seinem Tagebuch vertraut er jedoch diesen Gedanken 1895 an: „Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihnen in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Land jegliche Arbeit verweigern.“ Die Wohlhabenden würden „auf unsere Seite“ überwechseln. „Das Expropriationswerk (die Landnahme, red. Anmerkung) muss ebenso wie das Fortschaffen der Armen mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen“.

Die Araber jedoch wollten dieses „zarte“ Herausdrängen aus ihrer Heimat nicht hinnehmen. Sie wehrten sich, je mehr Juden kamen, mit gewalttätigen, blutigen Ausschreitungen, die vor allem Mitte der 30er Jahre eskalierten. David Ben-Gurion, der Israels Gründervater werden sollte und ursprünglich für ein Verbleiben der Araber war, sah schon 1938 die Notwendigkeit, dies zu ändern: „Ich bin für zwangsweise Umsiedlung. Ich kann nichts Unmoralisches darin sehen.“ Und er meinte, was er sagte. Im Unabhängigkeitskrieg 1948 wurden etwa 400 arabische Dörfer dem Erdboden gleichgemacht oder von den jüdischen Angreifern übernommen, 750.000 Araber flohen oder wurden vertrieben, nicht zuletzt durch die arabische Propaganda angefeuert, die ihnen versprach, die Juden in wenigen Wochen zurück ins Meer zu treiben.

Diese Vertreibung war jahrzehntelang das große schwarze Loch der israelischen Geschichtsschreibung, wurde massiv verdrängt und beschwiegen. Erst in den 80er Jahren legten israelische und palästinensische Historiker diese eigentlich offensichtlichen Fakten offen.

Der Sechs-Tage-Krieg jedoch schaffte 1967 endgültig die Grundlage für die heutige Situation. Israel eroberte unter anderem den Gazastreifen, die sogenannte Westbank und ganz Jerusalem inklusive der heiligen Stätten von drei Weltreligionen. Siegestrunken nahmen die Israelis diese Gebiete in Besitz, darunter mit Judäa und Samaria das alttestamentarische jüdische Kernland. Die Araber antworteten mit noch mehr Terroranschlägen, die Israelis mit immer mehr Siedlungen, aus einer Mischung aus religiösen, nationalen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt aus Sicherheitsgründen.

Ein "Staat Judää" neben dem Staat Israel?

Israelische Flaggen über einem Haus im Osten Jerusalems, im Hintergrund die Al-Aqsa-Moschee.
Israelische Flaggen über einem Haus im Osten Jerusalems, im Hintergrund die Al-Aqsa-Moschee.

© AFP

Sprung in die Gegenwart: „Flammen haben unser Land erfasst. Flammen der Gewalt, des Hasses und des Irrglaubens“, sagt Israels Präsident Reuven Rivlin. Es brauchte einen besonders brutalen Brandanschlag, um Israel in der Realität ankommen zu lassen, die sich historisch so lange aufgebaut hatte. Ein anderthalb Jahre altes palästinensisches Kind verbrannte, der Vater erlag später seinen Verletzungen. Fast gleichzeitig stach ein religiöser Fanatiker in Jerusalem auf die Teilnehmer einer Schwulenparade ein und tötete eine junge Frau. Zuvor war eine symbolträchtige christliche Kirche am Tiberiassee in Flammen aufgegangen.

Ein Propagandafest für die israelische Linke, sollte man meinen, die immer schon vor dem Erstarken der nationalen und der religiösen Fanatiker gewarnt hatte. Doch der entsetzte Aufschrei ging sehr viel weiter, ergriff auch die Mitte, ließ auch Kommentatoren zur Feder greifen, die sonst durchaus für eine harte Hand gegen arabischen Terror, etwa in Gaza, plädieren.

Gewalt gegen Palästinenser durch jüdische Siedler gehört seit Jahren zum Alltag, Drangsalierungen, Handgreiflichkeiten, das Verbrennen von Feldern und Olivenbäumen, das Abreißen von Häusern, Erniedrigungen durch das Militär an den vielen Checkpoints. Und auch die lange Kette palästinensischer Gegengewalt, Messerattacken auf Polizisten, Steinewerfen auf Siedlerautos, auch tödliche Anschläge.

Man fühlt sich in das Alte Testament zurückversetzt. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Doch, so argumentiert die Kommentatorin Sima Kadmon, wenn es bei uns passiert, dann reden wir vom Einzelfall eines Verrückten, wenn es bei denen passiert, dann reden wir immer von mörderischen Terroristen. Und kommt zu dem Schluss: „Wir sind nicht besser als unsere Feinde“.

Ron Ben-Yishai war vor 40 Jahren der erste israelische Fernsehkorrespondent in Deutschland, heute ist er einer der bekanntesten Sicherheitsexperten seines Landes. Er geht noch einen Schritt weiter. “Dies ist jüdischer Jihad,identisch in jedem Detail mit dem islamischen Jihad” – nur dass es kein Massenphänomen sei. Denn auch diese Täter beriefen sich darauf, nur Gottes Willen umzusetzen. Weder die Sicherheitsbehörden, die Knesset und auch nicht die Gerichte könnten ihre Hände in Unschuld waschen. „Hätten sie die jüdischen Terroristen so behandelt wie sie die arabischen Terroristen behandeln, hätten sie viele dieser Akte des Mordes, der Brandstiftung und des Vandalismus verhindern können“

Bradley Burston brachte es in Haaretz wohl am schmerzlichsten auf den Punkt, und er betont, es falle ihm schwer, dies zu schreiben, weil er sich immer gegen diesen Vergleich verwahrt habe: „Es ist Zeit, es zuzugeben. Die israelische Politik ist das, was sie ist: Apartheid“ .Gekennzeichnet durch unterschiedliche Maßstäbe bei der Behandlung von Arabern und Juden, und da passe es ins Bild, wenn die neue Justizministerin Ayelet Shaked, eine ultrarechte Politikerin aus dem Siedlerlager, jetzt eine Gesetz anstrebe, das die Strafe für Steinewerfen, Protestwaffe vor allem palästinensischer Jugendlicher, auf 20 Jahre anheben soll.

Schnelllebige Kommentare von Journalisten, die genauso schnell auch wieder vergessen sind? Ihre Urteile freilich werden unterstützt von einem Mann, der es wirklich wissen muss: Yuval Diskin, lange Jahre Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet. Er sieht besorgt, neben dem Staat Israel entstehe de facto ein „Staat Judäa“. Dort gebe es unterschiedliche Standards, unterschiedliche Wertesysteme, unterschiedliche Einstellungen zur Demokratie, und zwei verschiedene Justizsysteme, und die Sicherheitsbehörden dort seien gegenüber Juden „schockierend schwach“ . Im Staat Judäa hätten sich, unterstützt von hunderten junger Aktivisten, über die Jahre anarchistische, anti-staatliche, gewalttätige und rassistische Ideologien entwickelt, und „sie werden vom israelischen Justizsystem tolerant behandelt“. Die bittere Schlussfolgerung des Ex-Geheimdienstchefs: Dieser „jüdische Terrorismus“ sei ein „Krebs im Körper der Nation“

Benjamin Netanjahu wird zum Getriebenen der Entwicklung

Israelische Flaggen über einem Haus im Osten Jerusalems, im Hintergrund die Al-Aqsa-Moschee.
Israelische Flaggen über einem Haus im Osten Jerusalems, im Hintergrund die Al-Aqsa-Moschee.

© AFP

Es sind deutliche Stimmen, die plötzlich in Israel zu hören sind. Ungewöhnlich scharf, ungewöhnlich polarisierend, und ungewöhnlich selbstkritisch. Es ist keine Frage, dass diese religiösen Fanatiker eine Minderheit sind, die das erklärte Ziel haben, nicht nur die Araber, sondern auch den Staat Israel zu bekämpfen. Sie haben eine klare Agenda, und die schließt Gewalt ganz ausdrücklich ein. Unter dem Druck der Ereignisse ist die Regierung in Jerusalem jetzt dazu übergegangen, einige Rädelsführer in „administrativen Gewahrsam“ zu nehmen, eine Behandlung, die sonst bei Palästinensern die Möglichkeit lieferte, sie jahrelang ohne Urteil festzuhalten.

Aber diese Fanatiker operieren politisch nicht im luftleeren Raum. Der israelische Schriftsteller David Grossmann schrieb in der FAZ, Ministerpräsident Netanjahu habe die jüngsten Anschläge zwar klar verurteilt: „Fragen aber muss man sich, wie es dem Ministerpräsidenten und seinen Ministern immer wieder gelingt, die Verbindung zwischen dem Feuer, das sie bereits seit zwanzig Jahren schüren, und diesem neuen Brandanschlag völlig zu ignorieren. Wieso entgeht ihnen der Zusammenhang zwischen der nun schon achtundvierzigjährigen Besatzung und der düsteren, fanatischen Realität in den Grenzregionen des israelischen Bewusstseins, die täglich um sich greift?“ Grossmann legt hier den Finger in die Wunde, indem er auf die Entwicklungen verweist, die sich auch bei den jüngsten Wahlen gezeigt haben. Israel rückt immer weiter nach rechts, das Land wird von einer Koalition regiert, in der nationalistische und religiöse Strömungen sich ausbreiten, die auch ein Ziel haben: endlich die besetzten Gebiete zu annektieren und sie Israel zuzuschlagen, was das endgültige Aus für irgendeine Zwei-Staaten-Lösung bedeuten würde. Grossmann beobachtet richtig: „Diese Realität streckt ihre Fühler zurzeit auch zum politischen Zentrum aus und gewinnt in der israelischen Bevölkerung, in der Knesset und im Kabinett an Legitimität und Akzeptanz.“

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, dessen wichtigstes Ziel stets der eigene Machterhalt war, wird zunehmend zum Getriebenen dieser Entwicklung. Um die mit nur einer Stimme Mehrheit regierende Koalition zusammenzuhalten, muss er dafür Ministerposten an seine politischen Partner verteilen, die selbst er für problematisch hält – aber er tut es. Das gilt auch für die junge Justizministerin Ayelet Shaked von der Siedlerpartei „Jüdisches Heim“ die es sich zur Aufgabe gemacht hat, gegen den vergleichsweise liberalen Obersten Gerichtshof vorzugehen.

Als Knessetabgeordnete hatte sie sich noch für eine Annektierung der besetzten Gebiete stark gemacht. Jetzt regte sie an, dem obersten Gericht, das immer wieder mal den Abriss von illegalen Außenposten verfügte, die Zuständigkeit bei Landdisputen in Judäa und Samaria zu nehmen und dafür ein Sondergericht einzurichten. Außerdem gab sie das Ziel aus, den Einfluss der Richter auf die Arbeit von Regierung und Parlament einzudämmen und mehr politischen Einfluss auf ihre Ernennung zu nehmen. Ihr das Justizministerium zu übertragen, so kommentierte es ein Knessetabgeordneter ironisch, sei so, als übergebe man die Feuerwehr einem Pyromanen.

Einen internen scharfen Kritiker vom rechten Rand der Likud-Partei hat Netanjahu jetzt nach New York weggelobt, auch er ein Anhänger der Idee, die besetzten Gebiete zu annektieren. Danny Danon wird Israel nun als Botschafter ausgerechnet bei der UNO vertreten – ein erklärter Gegner jeder Zweistaatenlösung. Das werde, so kritisierte die zionistische Opposition, Israels Isolierung in der Welt weiter vertiefen.

In der Tat wird es auch für Israels Freunde immer schwieriger, den Staat der Juden zu unterstützen. Die deutsche Bundesregierung hat zwar im Jubiläumsjahr von 50 Jahren deutsch-israelischer Beziehungen viel vom „Wunder“ gesprochen, das den Austausch von Botschaftern damals möglich machte und die Verbindungen auf vielen Feldern heute eng sind. Aber zur Lage in den besetzten Gebieten hält sie, wie der Rest der Welt, an der Forderung nach einer Zweistaatenlösung fest. Und über Benjamin Netanjahus obsessiv vorgetragenen Widerstand gegen ein Nuklearabkommen mit dem Iran hat sie sich, wie die übrigen großen fünf Verhandlungsmächte einschließlich USA und Russland, schlicht hinweggesetzt.

Werner Sonne verfolgt die Entwicklung in Israel als Journalist seit 40 Jahren. Er ist unter anderem Autor der Buches „Staatsräson? Wie Deutschland für Israels Sicherheit haftet“ sowie des Romans „Wenn ich Dich vergesse, Jerusalem“.

Werner Sonne

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