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Jürgen Trittin, Politiker von Bündnis 90 / Die Grünen im Fritz Heyn in Pankow.

© Doris Spiekermann-Klaas

Jürgen Trittin im Interview: „Es gibt in Deutschland eine Merkel-Müdigkeit“

Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin über die sinkende Autorität der Kanzlerin, den Aufschwung der SPD unter Martin Schulz – und Korrekturen an der Agenda 2010.

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Herr Trittin, ist Martin Schulz für die Grünen eine Hoffnung oder eine Gefahr?

Die Benennung von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten hat ein tot geglaubtes Rennen wieder offen gemacht. Das ist erst mal erfreulich.

Seitdem gehen die Umfragewerte der Grünen nach unten. Ihre Partei lag lange deutlich über zehn Prozent, nun sehen viele Demoskopen sie nur noch bei sieben Prozent. Ist Schulz für die Grünen eine Bedrohung?

Nein. Wir müssen nur richtig darauf reagieren. Im Moment bricht etwas auf. Noch vor einiger Zeit erschien es utopisch, die CDU nach der Bundestagswahl in die Opposition zu schicken. Jetzt ist das Ende der Regierung Merkel in den Bereich des Möglichen geraten. Ich glaube übrigens, das hat noch nicht einmal besonders viel mit Martin Schulz zu tun.

Woran soll es sonst liegen?

Es gibt eine Merkel-Müdigkeit. In Deutschland macht sich eine Stimmung breit: Nach zwölf Jahren ist mal gut. Davon profitiert Martin Schulz. Und daraus kann auch eine Wechselstimmung entstehen. Auf die müssen wir setzen.

Woher kommt denn die Merkel-Müdigkeit?

Durch das Dauerfeuer aus den Reihen von CDU und CSU gegen ihre Politik. Aber auch, weil es eine neue globale Polarisierung gibt. US-Präsident Donald Trump hat eine Auseinandersetzung darüber angestoßen, wie diese Welt aussehen soll. Soll sie nach Regeln funktionieren oder nach dem Recht des Stärkeren? Wollen wir offene Gesellschaften und internationale Kooperation oder die Rückkehr zum Nationalismus? Diese Polarisierung führt zu einer Mobilisierung. Davon können die Grünen profitieren.

Noch ist davon aber nichts zu spüren. Ist die aktuelle Umfrageschwäche vor allem auf den Schulz-Hype zurückzuführen?

Es gibt große Schnittmengen zwischen den Wählerinnen und Wählern der Grünen und der SPD, die wandern teilweise hin und her. Der neue SPD-Kandidat hat zunächst auch solche Menschen neugierig gemacht, die sich in den Umfragen zu uns bekannt haben. Wir werden klarmachen: Wenn Martin Schulz nicht der neue Bart der alten großen Koalition werden soll, geht das nur mit starken Grünen. Nur so kann verhindert werden, dass nach dem September die große Koalition weiterregiert.

Sie sind der einzige prominente Grüne, der schon lange für eine rot-rot-grüne Machtperspektive eintritt. Gewinnt diese Konstellation unter den Grünen nun mehr Freunde?

Ich werbe erst mal und vor allem dafür, dass Grüne für ihre eigene Politik streiten. So habe ich immer Wahlkampf gemacht. Wenn sich daraus Schnittmengen mit anderen Parteien ergeben, ist das schön. Aber das ist nicht mein Hauptanliegen.

Aber Sie haben eine Präferenz für Rot-Rot-Grün?

Das sehe ich praktisch, nicht ideologisch. Bei zentralen Themen gibt es eine größere Nähe zur SPD und auch zur Linkspartei – und eine klare Frontstellung zur CDU und CSU.

Zum Beispiel?

CDU und CSU wollen wie in Zeiten des Kalten Krieges in eine neue Politik des Wettrüstens einsteigen, damit wir fast so viel für Rüstung ausgeben wie die Atommacht Russland. Grüne – wie auch Linke und SPD – halten eine solche Aufrüstung für falsch. Schauen Sie auf die Frage, ob es in dieser Gesellschaft so gerecht zugeht, wie die Menschen das erwarten. Grüne wollen im Gegensatz zu CDU und CSU das wachsende Armutsrisiko nicht einfach hinnehmen. Die dritte große Kontroverse sehe ich bei der Zukunft Europas. Die Grünen und seit Neuestem auch die Sozialdemokraten mit Martin Schulz streiten für ein europäisches Investitionsprogramm und ein Ende der Austeritätspolitik. CDU und CSU blockieren das.

Sollten die Grünen dann nicht auch im Wahlkampf sagen, dass sie ein rot-rot-grünes Bündnis favorisieren?

Je deutlicher das grüne Profil ist, desto klarer wird auch, mit wem sich das realisieren lässt. Die Menschen sehen doch, dass Deutschland mit der Union oder der FDP in der Regierung nicht friedlicher, gerechter oder europäischer wird.

Ist Schwarz-Grün im Bund tot?

Realpolitik beginnt beim Betrachten der Wirklichkeit. Seit Monaten sagt die CSU bei jeder Gelegenheit, dass sie alles machen würde, nur nicht Schwarz-Grün. Das hat sich bei der Bundespräsidentenwahl gezeigt: Die CSU war nicht bereit, über einen grünen Kandidaten zu reden. Deshalb formuliert Seehofer wie die AfD und NPD, wenn er sagt, „Wir sind nicht das Sozialamt der Welt“. Deshalb hat er die CSU darauf eingeschworen, keine Regierungsbeteiligung ohne Obergrenze. Das alles geht nicht mit den Grünen. Schwarz-Grün gibt es nur mit Frau Merkel und Herrn Seehofer im Doppelpack – und Horst Seehofer will nicht.

Sie würden „im Zweifel lieber mit Sahra Wagenknecht als mit Horst Seehofer“ regieren, haben Sie einmal gesagt. Warum?

Ganz einfach: Weil Sahra Wagenknecht mit ihren falschen Positionen zur Flüchtlingspolitik in ihrer Partei in der Minderheit ist. Sie setzt auf Abschottung, aber das macht noch nicht einmal ihr linker Flügel mit. In der CSU hingegen ist diese Position breiter Konsens.

Sahra Wagenknecht ist aber kein Nobody, sondern Spitzenkandidatin.

Aber am Ende schließen Parteien Koalitionen. Nehmen Sie die Landtagswahl im Saarland Ende März. Wenn es möglich ist, wird die Linkspartei mit Oskar Lafontaine sich einer Regierung nicht verweigern.

Eine Landesregierung ist etwas anderes als eine Bundesregierung.

Wenn es nach der Bundestagswahl bei der Regierungsbildung auf sie ankommt, wird die Linkspartei enorm unter Druck geraten. Die Linke muss dann ihren Anhängern erklären, dass sie nach zwölf Jahren die Kanzlerschaft von Angela Merkel beenden könnte, ihr dann aber zum Schaden der linken Regierungen in Griechenland und Portugal doch eine Laufzeitverlängerung gewährt.

Es gibt auch Politikfelder, in denen Sahra Wagenknecht die Mehrheitsmeinung der Linkspartei vertritt – etwa in der Außenpolitik. Sie lehnt Auslandseinsätze der Bundeswehr ab, verweigert sich der EU, ist nicht bündnisfähig. Ist das kein Hindernis für eine rot-rot-grüne Regierung?

Ganz klar: Wer in Deutschland regieren will, muss sich zur Europäischen Union bekennen, zu der Rolle, die Deutschland in der EU spielt und zum transatlantischen Bündnis. Das muss die Linke wissen, wenn sie darüber nachdenkt, ob sie mitregieren will.

Apropos Europapolitik. Wäre es aus Ihrer Sicht für Europa eine gute Nachricht, wenn Angela Merkel im September abgewählt würde?

Ja. Wenn wir die europäische Politik des Kaputtsparens in der Krise beenden und den europäischen Zusammenhalt stärken wollen, muss die Union in die Opposition.

Und die Chancen für einen solchen Kurswechsel wären größer, wenn Merkel nicht mehr Regierungschefin wäre?

Selbst wenn Frau Merkel ein Ende der Austeritätspolitik wollte, könnte sie das in ihrem eigenen Laden nicht durchsetzen. In der Union werden gerade die Kräfte stärker, die unbedingt an dieser Sparpolitik festhalten wollen – auch um den Preis des Grexit.

Sie halten es also nicht mit Ihrem Parteifreund Winfried Kretschmann, der sagt, er bete täglich für Angela Merkel?

Ich bete nicht, nicht einmal für Werder Bremen.

Kretschmann argumentiert, man brauche Angela Merkel auch angesichts des Flüchtlingszuzugs als erfahrene Krisenmanagerin, um Europa zusammenzuhalten.

Klar ist: Deutschland verhindert derzeit, dass die schändlich hohe Arbeitslosigkeit in Europa wirksam bekämpft wird. Ich würde Frau Merkel noch nicht einmal den Willen dazu absprechen. Ich glaube aber, dass sie es nicht mehr kann. Sie ist in dieser Frage im eigenen Laden nicht mehr mehrheitsfähig. Die Kanzlerin ist von den Grünen zu Recht für ihre humanitäre Entscheidung im Herbst 2015 gelobt worden, mich eingeschlossen. Aber seit über einem Jahr praktiziert sie das Gegenteil. Sie setzt komplett auf Abschottung. Das zeigt sich am Plan, Flüchtlingslager in Nordafrika einzurichten oder am Deal mit Erdogan. Es wird nicht funktionieren. Ohne legale Zugangsmöglichkeiten nach Europa werden wir Migration und Flucht nicht besser steuern können.

Kommen wir noch einmal zu den Grünen. Die Spitzenkandidaten Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt gelten als Freunde von Schwarz-Grün. Passt das zur neuen Lage, in der Martin Schulz der SPD die Regierungsübernahme ermöglichen könnte?

Unsere Spitzenkandidaten stehen für einen Kurs der grünen Eigenständigkeit auf der Basis unserer Programmatik. Deren Schnittmenge mit denen der SPD ist weit größer als die mit der Union. Das haben Katrin und Cem erst jüngst betont. Jetzt geht es um die Frage: Sind wir die Kraft für einen Wechsel und haben die Kraft, die Union nach zwölf Jahren in die Opposition zu schicken?

Was heißt denn der Kurs der Eigenständigkeit konkret?

Nehmen Sie den Kohleausstieg, nehmen Sie die Verkehrswende. Seit mehr als zehn Jahren attackieren wir Grünen die staatliche Subventionierung der auf den Weltmärkten gescheiterten Dieselstrategie der deutschen Automobilindustrie. Nun liegt das Kind im Brunnen. Eigentümer von Dieselautos sehen sich mit Fahrverboten konfrontiert und fürchten Wertverluste. Das wird zu Absatzeinbrüchen führen. Die Sondierungsgespräche der Union mit den Grünen 2013 platzten auch deshalb, weil die Kanzlerin lieber für BMW in Brüssel lobbyiert hat. Heute kämpft sie in China gegen eine Quote für E-Mobile. Und bei alldem ist sie von der SPD wie der IG Metall lange gedeckt worden. So wurde rechtzeitiges Umsteuern blockiert. Grüne müssen nun die deutsche Autoindustrie bei Elektroautos in die Wettbewerbsfähigkeit schubsen. Nur damit hat der Automobilstandort Deutschland eine Zukunft – sonst endet VW wie RWE.

Martin Schulz hat in Teilen der Bevölkerung mit seiner Distanzierung von der Agenda 2010 punkten können. Haben die Grünen dieses Kapitel der rot-grünen Regierungszeit genügend aufgearbeitet?

Die Agenda 2010 ist in Kernbestandteilen auch auf unseren Druck hin schon vielfach korrigiert worden, durch die Einführung des Mindestlohnes oder mit neuen Regeln für die Zeitarbeit. An der Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes hat das nichts geändert, im Gegenteil. Wir Grünen haben uns früh von Teilen der Agenda-Politik verabschiedet. Und auf unserem letzten Parteitag in Münster haben wir beschlossen, dass wir die Schikanierung der Langzeitarbeitslosen durch Sanktionen beenden wollen. Unsere Forderung nach einer grünen Garantierente ist eine handfeste Korrektur dieser Politik. Jeder, der dem Arbeitsmarkt 30 Jahre zur Verfügung stand, soll nach unseren Vorstellungen im Alter eine Versorgung über dem Existenzminimum bekommen. Seit Schulz zum Kanzlerkandidaten ausgerufen wurde, redet nun auch die SPD von solchen Modellen.

In die Bundestagswahl 2013 sind die Grünen mit einem umfangreichen Steuerprogramm gezogen. Wie offensiv sollte die Partei die Forderung nach einer Vermögensteuer in diesem Wahlkampf vertreten?

Der Parteitag hat sich klar zu dem Ziel bekannt, eine Vermögensteuer einzuführen. Doch im Moment beschäftigt die Menschen vor allem die Frage, wie es ihnen persönlich geht. Die Vermögenssteuer erscheint manchen da abstrakt. Sie wird deshalb vielleicht im Wahlkampf keine so große Rolle spielen. In Zeiten knapperer Kassen aber wird sie wieder auf der Tagesordnung stehen. Die Alternative wäre sonst Verschuldung.

Sie waren Parteichef, Minister, Fraktionschef, Spitzenkandidat. Wie kommen Sie mit Ihrer jetzigen Rolle klar?

Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Mir geht’s gut.

Das Gespräch führten Cordula Eubel und Hans Monath. Das Foto machte Doris Spiekermann-Klaas.

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