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Einmal noch winken und für den Abschied üben - US-Präsident Donald Trump

© Mandel Ngan, AFP

Kann Joe Biden US-Präsident werden?: Wie Donald Trump zu schlagen ist

Panik und Dämonisierung machen Trump stark. Es ist höchste Zeit, den Kaninchenblick auf die Schlange zu beenden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Donald Trump ist ein Faszinosum. Er lügt, ohne rot zu werden. Er reißt sexistische und rassistische Sprüche, und nichts bringt ihn zu Fall - kein Skandal, kein Enthüllungsbuch, kein Amtsenthebungsverfahren, kein Aufstand innerhalb der eigenen Partei. Vor vier Jahren gewann er die Wahl gegen die haushohe Favoritin Hillary Clinton. Seitdem bleiben seine Fans ihm treu. Einer wie er ist offenbar in der Lage, die politische Vernunft außer Kraft zu setzen.

Diese Schilderung Trumps enthält bereits das Dilemma, in das er seine Kritiker stürzt. Dessen stark polarisierende Rhetorik lässt sich nicht ignorieren. Sie verheißt öffentliche Aufmerksamkeit und den Medien gute Quoten. Die Berichte über ihn im Präsidentschaftswahlkampf 2015/2016 wären als Werbung mehr als zwei Milliarden Dollar wert gewesen. Trump bekam sie kostenlos. Frechheit siegt.

Seit Trumps Wahlsieg befinden sich Amerikas Demokraten und fast der gesamte Rest der Welt in einer Art Schockstarre. Es war geschehen, womit keiner gerechnet hatte und was niemals hätte geschehen dürfen. Unmögliches war real geworden. Entsetzen und Panik wechseln einander ab. Wenn es einmal passiert ist, kann es wieder passieren. Kaum einer traut sich noch einen vorurteilsfreien Blick auf die Fakten zu.

Dabei ist es genau die Mischung aus Faszination, Panik und Dämonisierung, die Trump stark macht. In dem Maße, in dem seine Gegner an ihm verzweifeln, wächst seine Macht über sie. Er lässt sie schließlich verzweifeln. Er lässt sie ohnmächtig die Fäuste in der Tasche ballen, sich folgenlos erregen. Was für ein Teufelskerl!, denken bewundernd seine Anhänger. Könnte einer wie er nicht auch Joe Biden aus dem Rennen werfen?

Es ist höchste Zeit, den Kaninchenblick auf die Schlange zu beenden. Trumps Maulheldentum ist womöglich das letzte, was ihm geblieben ist. Einst wurde er unterschätzt, jetzt wird er überschätzt. Seine rebellische Attitüde nutzt sich ab, er hatte nie eine Mehrheit der Amerikaner auf seiner Seite, die Zustimmungswerte für seine Arbeit als Präsident pendelten zwischen 41 und 43 Prozent und erreichten nie mehr als 48 Prozent, sein Wählerpotenzial – überwiegend weiße, verheiratete, männliche Kirchgänger – hat er ausgeschöpft.

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Bei den Kongresswahlen vor zwei Jahren brummte die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit war niedrig, zwei konservative Verfassungsrichter waren ernannt worden und keiner sprach von Corona. Trotzdem triumphierten die Demokraten. Sie errangen die Mehrheit im Repräsentantenhaus, selbst im Senat, in dem die Republikaner wenige Sitze hinzugewannen, hatte die Opposition einen Vorsprung von mehr als zwölf Millionen Stimmen. Besonders Frauen, Erstwähler und Minderheiten konnten mobilisiert werden.

Joe Biden ist nicht Hillary Clinton. Im Unterschied zu ihr – und Trump - bekommt der aktuelle Kandidat der Demokraten weithin gute persönliche Noten. Ihm wird zugetraut, die Nation zu einen. Angriffe auf Bidens Alter und seinen Gesundheitszustand – Trump nennt ihn „Sleepy Joe“ und streut Gerüchte über die mentale Schwäche des 77-Jährigen – werden von älteren Wählern als diskriminierend wahrgenommen.

So wie Trump Joe Biden diffamiert, vergräzt er ältere Wähler

Senioren ab 65 Jahren haben seit 2004 mehrheitlich für Republikaner gestimmt. Trump lag bei ihnen acht Prozentpunkte vor Clinton. Jetzt wenden sie sich von dem Amtsinhaber ab. Trumps Attacken auf die staatliche Krankenversicherung, das Briefwahlsystem und seine Bagatellisierung der Coronakrise verärgern viele ältere Wähler. Die Überläufer nennt man „defecting seniors“. Alten- und Pflegeheime in den USA verzeichneten die meisten Covid-19-Toten.

Im direkten Vergleich führt Biden mit rund sechs Prozentpunkten vor Trump. Einen komfortablen Vorsprung hat er auch in den meisten „battleground states“, den oft wahlentscheidenden Bundesstaaten. In Wisconsin sind es sechs, in Michigan und Arizona fünf, In Pennsylvania vier Prozentpunkte. Würde morgen gewählt, würde ihm die „blue wave“ (blau ist die Farbe der Demokraten) einen fulminanten Sieg bescheren.

Joe Bidens Vorsprung ist größer als der Vorsprung Hillary Clintons 2016

Laut „Economist“ beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass Biden die Mehrheit im „electoral college“, dem Wahlmännergremium, gewinnt, 85 Prozent. Da in vielen Staaten bereits per Briefwahl abgestimmt wird, übersetzt sich die derzeitige politische Stimmung voraussichtlich in Zugewinne der Demokraten. Es stimmt, auch Hillary Clinton lag 2016 in Umfragen vorn. Aber ihr Vorsprung bewegte sich zumeist im Bereich der Fehlermarge.

Die meisten Amerikaner haben ihr Urteil gefällt, die Zahl der Unentschlossenen ist gering. Aktuelle Ereignisse wie die Coronakrise, die Wirtschaftsentwicklung oder der Streit über die Neubesetzung der Stelle am Obersten Verfassungsgericht wirken sich nur marginal auf die politischen Präferenzen aus.

Natürlich kann ein Wunder geschehen und Trump Präsident bleiben. Aber es muss schon ein ziemlich großes Wunder sein. Verzagtheit, gar Angst davor helfen aber nichts. An ihre Stelle muss ein gelassenes Selbstbewusstsein treten. Nur dadurch lassen Blender sich entzaubern.

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