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Kanzler-Auftritt: Mehr offene Fragen als Antworten

Noch 100 Tage bis zur angestrebten Bundestags-Neuwahl am 18. September. Doch auch nach dem unerwarteten Presseauftritt von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) nach seinem Besuch bei Bundespräsident Horst Köhler bleiben weiter viele Fragen offen. (09.06.2005, 17:22 Uhr)

Berlin - In knappen Worten machte der Kanzler klar: Es bleibt - wie angekündigt - bei der Vertrauensfrage am 1. Juli im Bundestag. Und diese Abstimmung werde er nicht mit einer politischen Sachfrage verbinden - etwa der Unternehmenssteuerreform, was Spielraum für politische Schuldzuweisungen in Richtung Grüne oder SPD-Linke gelassen hätte.

Also auch kein vorzeitiger Rücktritt, kein Wechselspiel zu einem SPD-Übergangskanzler Franz Müntefering und auch kein plötzliches Kommando zurück in dem nun einmal angestoßenen Neuwahlverfahren - oder wie auch andere seit Tagen in Berlin kursierende Gerüchte und Spekulationen alle glauben machen wollen.

Sichtlich genervt reagieren damit Kanzler wie SPD-Chef Müntefering auch auf die heftigen Attacken mehrerer namhafter SPD-Funktionäre auf den Bundespräsidenten. Müntefering, der sich durch die Angriffe zu einem völlig ungewöhnlichen, öffentlichen Machtwort an die Partei via Fernsehen gezwungen sah, räumt ein, dass darunter auch seine Autorität als SPD-Vorsitzender leide. Und sorgenvoll fragt sich seit Tagen mancher in der SPD-Spitze: Wie lange macht Schröder das eigentlich noch mit, wann wirft er die Brocken hin?

«Ich habe einen Amtseid geschworen», versucht Schröder die Zweifel zu zerstreuen und macht zugleich als Mahnung an die Adresse der eigenen Partei deutlich, dass er nur für seine Reformpolitik steht und kämpfen will - und dass er mit der Neuwahl darüber auch eine Art Volksabstimmung erzwingen will. Und Müntefering versichert, dass die SPD im Wahlkampf «voll auf Schröder als Nummer eins» setzt. «Unsere Spitze ist der Bundeskanzler.»

Der unerwartete Neuwahl-Vorstoß nach dem SPD-Wahldebakel in Nordrhein-Westfalen hat die Partei offenbar doch mehr überrollt, als anfangs sichtbar wurde. Schröder sprach von einer «politischen Ausnahmesituation», die nicht «zu unangemessenen Reaktionen» führen dürfe. Doch die Zeit bis zum 1. Juli, bis zur endgültigen Klarheit über die Vertrauensfrage, ist noch lang und bietet viel Spielraum für weitere Spekulationen. Ein Vorziehen der Parlamentsabstimmung aber hätte nach dem Grundgesetz auch einen früheren Wahltermin erzwungen. Doch keine Fraktion im Bundestag möchte die Bundesbürger gerne zur Ferienzeit an die Wahlurne holen.

Dennoch: Trotz der wilden Spekulationen und Turbulenzen der vergangenen Tage ist Münteferings und Schröders Konzept bisher im wesentlichen aufgegangen: Der von vielen befürchtete zerfleischende Richtungsstreit in der SPD wurde bislang vermieden - sieht man von einzelnen Stimmen ab. Bei den Vorbereitungen für das SPD-Wahlmanifest, dass am 4. Juli verabschiedet werden soll, geht es um die «Weiterentwicklung» der Hartz-IV-Arbeitsmarktreform, um soziale Ergänzungen - nicht aber um die totale Abkehr des bisherigen Kurses. Dies hat jedenfalls auch die Partei-Linke versichert.

Gleichwohl hätten sich Müntefering wie Schröder offensichtlich von ihrer Partei mehr Aufbruchstimmung und Kampfbereitschaft erhofft - statt Selbstbeschäftigung und Debatten um Verfahrensfragen. Aber was wäre die Alternative zum Neuwahl-Vorstoß und damit zur Flucht nach vorn gewesen? «Blockade pur» durch den nach der NRW-Wahl stärker als je zuvor von der Union dominierten Bundesrat, 15 Monate Stillstand bis hin zum «politischen Ersticken», versuchte SPD-Parlaments-Geschäftsführer Wilhelm Schmidt deutlich zu machen. Allein in den vergangenen zweieinhalb Jahren hatte die Unionsmehrheit im Bundesrat 29 Mal die rot-grüne Koalition gezwungen, Einsprüche der Länderkammer mit der Kanzlermehrheit im Bundestag wieder zurückzuweisen. Das ist fast so viel wie in allen 14 vorherigen Wahlperioden des Bundestages zusammen. (Von Karl-Heinz Reith, dpa) (tso)

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