Ganz schön frech! In einigen Monaten wählt Deutschland eine neue Regierung und der amtierenden Bundeskanzlerin wird jetzt vorgeworfen, sie habe als jugendliche FDJ-Funktionärin der DDR offen für den Sozialismus agitiert. So jemand kann natürlich nicht Kanzlerin der CDU im vereinten Deutschland sein. Wenn der ungeheuerliche Vorwurf also stimmt, wäre die Amtsinhaberin weg vom Fenster, zumindest schwer demontiert. Und wenn er nicht stimmt, dann sollte sie ihn umgehend hart dementieren.
Aber was macht die Beschuldigte? Angela Merkel denkt überhaupt nicht daran, sich zu rechtfertigen. Sie steht Sonntagabend locker an ein Tischchen gelehnt in einem Charlottenburger Kino, zuckt mit den Achseln und tut so, als tropfe der Vorwurf einfach an ihr ab. Ein bisschen dehnt sie den Hals und sagt dann, soweit sie sich an diese Zeit in den Achtzigern erinnere, sei sie nicht FDJ-Funktionärin für Agitation und Propaganda, sondern für Kultur gewesen. Und „wenn sich jetzt was anderes ergibt“, fügt Merkel dann noch lapidar hinzu, „dann kann man damit auch leben“.

Merkel ist jetzt mehr auf Theaterbühnen als im Politzirkus zu erleben
Man könnte diesen Sonntagabend im Kino „Filmkunst 66“ in der Berliner Bleibtreustraße auch als so etwas wie einen Schlussstein des vorsommerlichen Frühwahlkampfes der Angela Merkel bezeichnen – unter dem Motto „Mensch Merkel“, gewissermaßen. Man weiß nun, dass diese Kanzlerin nicht nur eisenhart verhandeln, den Euro verteidigen und Regierungserklärungen halten kann. Man kennt jetzt auch Fotos von Merkel, der Oma, wie sie fürsorglich mit den Enkeln in den Osterurlaub fährt. Und man kennt Merkel, die Frau, die Männeraugen unwiderstehlich findet und bei einem „Brigitte“-Talk in einem Berliner Theater verrät, warum sie ihre Finger immer so komisch vor dem Bauch spreizt. Ach ja, und wie ein Kamel vorschlafen, das kann sie auch. Damit sie die langen und harten Brüsseler Verhandlungsnächte übersteht. Auch eine der vielen kleinen Erkenntnisse über die Frau, die jetzt zum dritten Mal ins Kanzleramt gewählt werden will und seit ein paar Wochen irgendwie mehr auf Theater- als auf politischen Bühnen zu sehen ist.
Fehlt eigentlich nur noch Merkel, die Ostdeutsche. Ein Bild zur Abrundung der Wahlkämpferin. Für die einen, die Westdeutschen – damit sie sich nicht sorgen müssen, womöglich doch von einer geheimen Agentin des KGB regiert zu werden. Und für die im Osten natürlich auch. Damit die Verbundenheit aus gemeinsamer Geschichte erneuert wird. Das mit dem Buch zweier Journalisten über Merkels Jugend („Das erste Leben der Angela M.“) und den unschönen, aber bei genauerer Betrachtung nicht besonders überzeugend belegten Vorwürfen, ist Merkel irgendwie dazwischen gerutscht, natürlich war es nicht geplant.
Und doch scheint es beinahe perfekt in ihre Strategie zu passen. Denn die Kanzlerin aus Templin hatte ohnehin vor, ihre ostdeutsche Vergangenheit in diesem Sommer stärker zu betonen. Bisher war sie da zurückhaltend, wollte Kanzlerin aller Deutschen und nicht nur der einen Seite sein. Nun ging sie auf ein Angebot der „Deutschen Filmakademie“ ein, an diesem Sonntag ihren Lieblingsfilm im Kino zu sehen und danach zu diskutieren.
- Wenn ein Mensch lebt
- Wiedervereinigt, sagt sie, hätten sich Menschen und keine Systeme
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