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Demonstration anlässlich der offiziellen Eröffnung des Neubaus der Europäischen Zentralbank (EZB) im März 2015.

© Fredrik von Erichsen/picture alliance /dpa

Kapitalismus und Demokratie: Warum sie einander brauchen

Er mache das Klima und die Liebe kaputt, heißt es. Über die schwierige, aber auch produktive Beziehung von Kapitalismus und Demokratie. Ein Gastbeitrag.

Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka ist emeritierter Professor an der Freien Universität Berlin und war Präsident des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin. Seine „Geschichte des Kapitalismus“ ist bei C. H. Beck erschienen (3. Auflage 2017).

Der Kapitalismus steht derzeit in der Kritik wie lange nicht. Erneut wird er eher als Widerpart denn als Partner der Demokratie wahrgenommen. Die Kritik ist sehr vielfältig: Sie reicht von Klagen über die Übermacht großer Digitalkonzerne, die ihre Nutzer überwachen, Steuern vermeiden und ihre Monopolstellung ausnutzen, bis zu Klagen über zunehmende prekäre Arbeit. Die Kritik speist sich aus dem Gefühl, dass durch Tinder sogar die Liebe dem kapitalistischen Prinzip untergeordnet wird, und in der Klimaschutzbewegung erneuert sich gerade eine fundamentale Wachstumskritik. Selbst die CEOs großer Unternehmer stimmen ein.

180 von ihnen veröffentlichten kürzlich in der „New York Times“ einen Text, in dem sie der Orientierung ihrer Unternehmen allein am Aktienwert abschworen und versprachen, wieder stärker auf Sinnhaftigkeit zu setzen. Der französische Ökonom Thomas Piketty veröffentlicht in Kürze seine zweite, fundamentale Kapitalismus- und Ungleichheitskritik – auch diese wird wohl ein Bestseller werden.

Auch der Wiederaufstieg von Populismus, Nationalismus und rechtsextremer Aggressivität wird als Protest der sozial und ökonomisch „Abgehängten“ und damit als Folge kapitalistisch bedingter Ungleichheit gedeutet. Es gibt viel empirische Evidenz, die diese Sichtweise stützt. Es lohnt also, wieder einmal grundsätzlich über das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus nachzudenken. Bedroht der Kapitalismus die Demokratie?

Der historische Befund und der internationale Vergleich ergeben ein anderes Bild. Am deutschen Beispiel: Im 19. und frühen 20. Jahrhundert gingen die Durchsetzung des Kapitalismus und die Demokratisierung von Gesellschaft und Politik Hand in Hand. Der Nationalsozialismus errichtete eine extreme Diktatur, die es aber großen Teilen der kapitalistischen Wirtschaft erlaubte, weiter Geschäfte und Profit zu machen, wenngleich die Machthaber tief in die Eigentumsrechte der Marktakteure eingriffen, bis hin zur entschädigungslosen, Recht und Verfassung verletzenden Enteignung der jüdischen Unternehmer.

Die DDR beseitigte Kapitalismus und Demokratie. In der Bundesrepublik gelang dagegen eine Symbiose von sozialstaatlich abgefedertem Kapitalismus und repräsentativer Demokratie, eine Verbindung, die sich ständig wandelt, aber überlebt.

In der Welt zeigt sich die Vielfalt kapitalistischer Systeme

Schaut man sich um in der Welt, dann zeigt sich die große Vielfalt kapitalistischer Systeme – und auch, dass es keinen einfachen Zusammenhang zwischen Demokratie und Kapitalismus gibt. Man sieht, dass die demokratischsten Länder eine kapitalistische Wirtschaftsstruktur besitzen, die Schweiz und Schweden als Beispiele. Demokratische Ordnungen sind bisher nur in kapitalistisch wirtschaftenden Ländern verwirklicht worden.

In Ländern, die den Kapitalismus vermieden oder abschafften, ging und geht es der Demokratie schlecht. Man denke an die Sowjetunion oder an Nordkorea, Kuba und Venezuela heute. Aber Kapitalismus gedeiht auch in autoritären und diktatorischen Systemen, sofern diese den Märkten den nötigen Spielraum belassen und sich mit ihnen verbünden; an Russland und China ist dies zu beobachten. In den demokratischen Staaten des anglo-amerikanischen Bereichs findet sich ein relativ marktradikaler Kapitalismus, in EU-Europa ein nicht „neoliberaler“, sondern hochgradig organisierter Kapitalismus.

Aus der Gesamtschau ergibt sich erstens, dass die Koexistenz, ja Symbiose von Kapitalismus und Demokratie verbreitet ist; und zweitens, dass Kapitalismus weder zwingend zur Demokratie noch zwingend zu ihrem Gegenteil führt, sondern dass er unter vielen verschiedenen (wenn auch nicht allen) gesellschaftlich-politischen Umständen florieren kann. Drittens: Es gibt sehr verschiedene Kapitalismen, und es hängt von der Struktur, Energie und Politik des jeweiligen Gemeinwesens ab, was für ein Kapitalismus sich in ihm verwirklicht.

Das lässt sich als Chance und Aufforderung formulieren: Der Kapitalismus bestimmt nicht aus sich heraus, welchen gesellschaftlichen und politischen Zwecken er dienstbar gemacht wird, obwohl er Eigengewicht besitzt und sich nicht leicht instrumentalisieren lässt.

Es kommt darauf an, was das jeweilige Gemeinwesen aus „seinem“ Kapitalismus macht, auch wenn die Handlungsspielräume durch die Funktionsbedingungen des Kapitalismus, historische Prägungen und internationale Abhängigkeiten begrenzt sind. Auf Politik, gesellschaftliche Gestaltungskraft und Kultur kommt es an. Dort liegt die Verantwortung. Wenn etwas katastrophal schiefgeht, kann man sich nicht auf „den Kapitalismus“ herausreden. Das lässt sich systematisch erklären.

Kapitalismus ist nicht demokratisch, Demokratie nicht kapitalistisch

Kapitalismus ist nicht demokratisch, Demokratie ist nicht kapitalistisch. Die Logiken beider unterscheiden sich und stehen in Spannung zueinander. Denn Kapitalismus und Demokratie besitzen unterschiedliche Legitimationsgrundlagen: ungleich verteilte Eigentumsrechte der eine, gleiche Staatsbürgerrechte die andere. In ihnen herrschen unterschiedliche Verfahren vor: der profitorientierte Tausch im Kapitalismus, dagegen Debatte, Kompromiss und Mehrheitsentscheidung in der demokratischen Politik.

Die durchaus egoistische Wahrnehmung partikularer Vorteile ist für kapitalistisches Handeln normal, auch wenn es beansprucht, indirekt zum allgemeinen Nutzen beizutragen. Die Verwirklichung des allgemeinen Wohls ist dagegen das Ziel demokratischer Politik, auch wenn die Wahrnehmung egoistischer Interessen dabei legitim und die Regel ist. Das Wirtschaften nach kapitalistischen Grundsätzen führt, wenn nicht gegengesteuert wird, zu einem Ausmaß an wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit, das nach den an gleichen Rechten, Chancen und Pflichten orientierten Grundsätzen der Demokratie schwer erträglich ist.

Umgekehrt ist die volle Anwendung demokratischer Entscheidungsregeln – gleiche Teilnahmerechte für alle, Wahlen, Mehrheitsentscheidungen, Minderheitenschutz – trotz Arbeitnehmermitbestimmung und anderer Reformen mit den Regeln des Kapitalismus unvereinbar. In der Tat: Kapitalismus ist nicht demokratisch und Demokratie nicht kapitalistisch.

Zugleich besteht eine Verwandtschaft zwischen Kapitalismus und Demokratie. In beiden spielen Wettbewerb und Wahlentscheidungen, Abwägen und Aushandeln eine Rolle. In beiden wird Freiheit praktiziert, Verständigung gesucht und zweckrational gehandelt. Kapitalismus und Demokratie haben gemeinsame Feinde: unkontrollierte Zusammenballung von Macht, Unberechenbarkeit, Korruption, auch Gewalt und Krieg.

Dem Kapitalismus hilft eine berechenbare rechtlich-politische Ordnung. Umgekehrt legitimiert das am ehesten durch den Kapitalismus gewährleistete Wachstum die Demokratie, denn Wachstum ermöglicht Innovation, die Finanzierung von Gemeingütern, sozialstaatliche Leistungen und Massenkonsum.

Grundsätzlicher noch: Das spannungsreiche Koexistieren von Kapitalismus und Demokratie bewirkt, dass politische Macht und wirtschaftliche Verfügungsgewalt nicht in eins fallen und zur Übermacht werden. Diese Gewaltenteilung gelingt in modernen Rechts- und Verfassungsstaaten. Denn diese erlauben und sichern grundrechtlich ab, dass die verschiedenen Lebensbereiche – Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Religion, Kunst – nach unterschiedlichen Logiken organisiert sind.

Diese innere Differenzierung moderner komplexer Gemeinwesen in relativ selbstständige Teilbereiche ist eine Bedingung von Freiheit und Demokratie, aber auch Voraussetzung der Leistungsfähigkeit von Staaten. Wenn das zutrifft, hat der Westen in der immer schärferen Konkurrenz zwischen seinem und dem chinesischen Modernisierungsmodell langfristig die besseren Karten.

Das Wechselverhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie wankt, wenn Grenzen überschritten werden

Das delikate Wechselverhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie wankt, wenn die Unterschiede und Grenzen systematisch überschritten werden. Dies aber geschieht derzeit häufig. Die Usurpation politischer durch finanzielle und ökonomische Macht – etwa mit großem Geld in den amerikanischen Wahlkämpfen – ist ein Beispiel, die auch die hierzulande drohende schleichende Umgestaltung von Wissenschaft, Bildung, Kunstbetrieb und Alltagsleben nach kapitalistischen Prinzipien ist ein anderes. Beidem kann man durch Gesetzgebung, zivilgesellschaftliches Engagement und eine Kultur der Solidarität entgegentreten.

Die notwendigen Grenzziehungen werden andererseits durch symbiotische Beziehungen zwischen staatlich-politischen und wirtschaftlich-finanziellen Machtträgern verwischt. Beobachter stellen solche Tendenzen in vielen heutigen Ländern fest, besonders im politisch eng kontrollierten Kapitalismus Ostasiens und Russlands. Solche Symbiosen hebeln die Macht- und Gewaltenteilung von Kapitalismus und Demokratie aus.

Andererseits ist zu betonen, dass die Grenzziehung zwischen den Teilbereichen nicht hermetisch sein kann und darf. Dass wirtschaftliche Interessen auf die politischen Entscheidungsprozesse Einfluss nehmen und dabei sehr stark sein können, ist nicht zu bestreiten. Dies ist ihr verfassungsmäßiges Recht, ist aber gesetzlich und praktisch zu begrenzen. Umgekehrt besitzen und benutzen staatliche Instanzen auch in den westlichen Demokratien ein breites Instrumentarium, um die kapitalistische Wirtschaft zu regulieren und im Einzelnen zu beeinflussen. Ihre Berechtigung an sich wird kaum bestritten, ihr Umfang und ihre Einzelheiten dagegen sehr.

Der hierzulande seit dem 19. Jahrhundert entwickelte Sozialstaat hat dazu beigetragen, einerseits den Kapitalismus vor Auswüchsen und Krisen zu bewahren, in die er, falls allein gelassen, schlittert; zugleich hat der Sozialstaat geholfen, die Akzeptanz des Kapitalismus und seine Demokratieverträglichkeit zu verbessern. Der Sozialstaat ist unabdingbar für jedes produktive Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie.

Doch aus drei Gründen wird es schwerer, diese staatlichen Regulierungs- und Förderungsmaßnahmen zu erbringen. Zum einen vertieft sich der Spalt zwischen seinen sich verschärfenden Unzuträglichkeiten und den Erwartungen der Menschen. Zwei Beispiele: Die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung nimmt innerhalb der ökonomisch fortgeschrittenen Gesellschaften unter dem Einfluss des Finanzkapitalismus weiter zu, während jedenfalls in einigen europäischen Ländern mit fortschreitender Demokratisierung die Bereitschaft abnimmt, ausgeprägte Ungleichheit zu akzeptieren.

Zweites Beispiel: Unter dem Einfluss der Kommunikationsrevolution sind die Beschäftigungsverhältnisse unsteter geworden. Die daraus folgenden Risiken und Unsicherheiten belasten viele Arbeitnehmer und Selbstständige. Die unaufhaltsame Digitalisierung lässt die Zukunft der Arbeit unsicher erscheinen. Gleichzeitig nimmt das Bedürfnis nach Planbarkeit und Sicherheit des Lebens eher zu. Die Klagen über Prekarisierung sind weit verbreitet und speisen die Kritik am Kapitalismus. Der Sozialstaat ist neu gefordert. Seine Aufgaben sind schwieriger geworden.

Der Kapitalismus ist ein Treiber von Erderwärmung und Umweltzerstörung

Zum andern ist die Sorge über die fortschreitende Erderwärmung und Umweltzerstörung in den letzten Jahren und Monaten massiv ins öffentliche Bewusstsein getreten und ins Zentrum der Politik gerückt. Der Kapitalismus ist ein Treiber dieser alarmierenden Entwicklung, einer unter mehreren. Ohne ihn wird es aber nicht möglich sein, die Wende zu stemmen. Aber die Märkte alleine schaffen es keinesfalls. Der Kapitalismus ist mit politischen Mitteln den neuen Zielen dienstbar zu machen. Dies ist möglich, aber schwer.

Schließlich bedroht uns eine grundsätzliche Diskrepanz: Im Zeitalter der Globalisierung sind der Kapitalismus und seine Probleme längst transnational geworden. Sie sind nur grenzüberschreitend zu regulieren und zu bearbeiten. Aber die dafür tauglichen Mittel, der Sozialstaat vor allem, sind im Wesentlichen nationalstaatlich begrenzt. Die Fähigkeit zu internationaler Verständigung ist rückläufig. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, diesen Trend zu wenden. Der Rückzug auf eine demokratisch-sozialstaatliche Bändigung des Kapitalismus ausschließlich im eigenen Land ist jedenfalls keine erfolgversprechende Strategie.

Reformen stehen an, Politik und Ideen sind gefragt. Demokratie ist nicht kapitalistisch und Kapitalismus nicht demokratisch. Aber sie passen zusammen. Die Zivilisierung des Kapitalismus gelingt am ehesten in der Demokratie. Diese überlebt am ehesten in gespannter Koexistenz mit Kapitalismus.

Jürgen Kocka

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