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Das neue BGH-Urteil hat Folgen.

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Karlsruhe: Die Folgen des Sterbehilfe-Urteils

Der Bundesgerichtshof hat den Abbruch lebensverlängernder medizinischer Maßnahmen erlaubt. Die Justizministerin meint, das Urteil schaffe schafft Rechtssicherheit. Welche Folgen hat die Entscheidung?

844 439 Mal ist im Jahr 2008 in Deutschland ein Menschenleben zu Ende gegangen. 403 626 Todesfälle ereigneten sich laut Statistischem Bundesamt in einem Krankenhaus. Von den anderen stirbt ein großer Teil zuhause oder erlebt die letzte Lebensphase in einem Pflegeheim – wie Frau K., um deren Fall es in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom Freitag ging.

Was war im konkreten Fall das medizinische Problem, mit dem das Gericht sich beschäftigen musste?
Die Verstorbene hatte zuvor fünf Jahre im Wachkoma gelegen. Dabei fallen nach einem schweren Unfall mit Schädel-Hirn- Trauma oder weil das Gehirn längere Zeit keinen Sauerstoff bekommt Funktionen der Großhirnrinde dauerhaft aus. Mediziner sprechen dann vom „Apallischen Syndrom“ oder „persistent vegetative state“. Die Betroffenen atmen zwar, überleben aber nur bei künstlicher Ernährung. Als Dauerlösung wird dafür heute die PEG (Perkutane Endoskopische Gastrostomie) gewählt, für die eine Sonde mittels Endoskop in den Magen ein- und über eine kleine Öffnung in der Bauchdecke wieder ausgeführt und befestigt wird. Im vorliegenden Fall hatte die Sonde schon fünf Jahre gelegen, als die – inzwischen zu gesetzlichen Betreuern bestellten – Kinder der Wachkoma-Patientin versuchten, die Ernährung einzustellen.

Welchen Einfluss hatte das Patientenverfügungsgesetz auf die Entscheidung?
Dauerhaft nicht bei Bewusstsein und völlig auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, ist für die meisten Menschen eine schreckliche Vorstellung. Und für viele ein starkes Motiv, eine Patientenverfügung zu verfassen. Das neue Patientenverfügungsgesetz, das nach jahrelangen Diskussionen am 1. September 2009 verabschiedet wurde, schafft hier gerade im Fall des Apallischen Syndroms neue Voraussetzungen. Die Willensentscheidung des Patienten hat nun unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung bindende Wirkung, auch bei einer Krankheit, die nicht wie unheilbarer Krebs unaufhaltsam zum Tode führt. Da das Legen einer Ernährungssonde ein zustimmungspflichtiger medizinischer Eingriff ist, muss dieser Wille zuvor ermittelt werden. Jede medizinische Behandlung muss immer wieder überprüft und bei Bedarf abgesetzt werden, das Ziehen der Sonde ist deshalb keine aktive Sterbehilfe.

Wer ist vom Problem der künstlichen Ernährung betroffen?
Betroffen sind nicht nur die 3000 bis 4000 Menschen, die in Deutschland pro Jahr ins Wachkoma fallen, sondern vor allem die große Gruppe von Pflegeheimbewohnern mit schwerer Demenz. Mehr als 100 000 Mal wird in Deutschland heute bei einem von ihnen eine solche Sonde für die Dauerernährung gelegt – weil sie nicht mehr essen und manchmal auch nicht mehr schlucken wollen. Dabei haben Studien gezeigt, dass die Sonden das Leben der Alzheimer-Patienten nicht verlängern und es ihnen auch nicht angenehmer machen. Zweifelnde Angehörige werden trotzdem immer noch mit der Gewissensfrage konfrontiert: „Sie wollen doch nicht, dass Ihre Mutter verhungert?“ Mit mehr Personal könnte man dabei bei den Bewohnern, denen es noch besser geht, viel tun, um ihren Appetit anzuregen und ihnen geduldig beim Essen zu helfen. Umgekehrt müsste man akzeptieren, dass Hungergefühle am Ende wie viele andere Lebensfunktionen weniger werden. „Es wird derzeit in Krankenhäusern und Pflegeheimen vieles in bester Absicht getan, was die Menschen ungewollt, aber aktiv am friedlichen Sterben hindert“, erklärte der Münchner Palliativmediziner Giovanni Borasio kürzlich in der „Süddeutschen Zeitung“. Mit Patientenverfügungen wollten sich die Bürger deshalb heute vor allem vor ärztlichen Kunstfehlern am Lebensende schützen, „und das auch noch berechtigterweise“.

Welche Folgen hat das Urteil?
Aus der Sicht von Michael de Ridder, Leiter der Rettungsstelle am Vivantes-Urban-Klinikum und Autor des Buches „Wie wollen wir sterben?“, ist es eine Entlastung für alle Ärzte. „Man kann bei Patienten, bei denen es keine Hoffnung auf Heilung mehr gibt, nun wesentlich unbeschwerter lebenserhaltende Maßnahmen beenden, das ist ein großer Fortschritt“, urteilt auch Günther Jonitz, Präsident der Berliner Ärztekammer. Er begrüßt die Klarheit, die das Urteil bringe. Ein Konflikt, wie er im vorliegenden Fall zwischen der Pflegeeinrichtung und den Angehörigen entstanden ist, sei aber auch in Zukunft nicht ganz ausgeschlossen. „Die Angehörigen haben sich zunächst widersprochen, und in einer solchen Situation muss der Arzt sich für das Leben entscheiden.“

Wie funktionieren Patientenverfügungen?
Der Grundsatz ist klar: Keine Behandlung darf gegen den Willen des Patienten begonnen und fortgeführt werden. Kann er sich – vorübergehend oder dauerhaft – nicht mehr äußern, muss der „mutmaßliche Wille“ genügen. „Schriftliche Verfügungen sind dafür eine ganz wichtige Grundlage“, sagt Ärztekammerpräsident Jonitz. Durch das neue Patientenverfügungsgesetz ist geklärt, dass der Wille des Verfassers gilt. „Das Gesetz kann dazu beitragen, dass Menschen sich mit dem eigenen Sterben konfrontieren“, sagt Notfallmediziner Michael de Ridder.

Ein Problem ist allerdings, dass selbst verfasste Schreiben oft zu pauschal sind und die Probleme, die sich später im Krankenhaus wirklich stellen, nicht umfassen. Verschiedene Organisationen bieten hier Rat und Vordrucke an, das Bundesjustizministerium hilft mit einer Broschüre und Textbausteinen, die von der Arbeitsgruppe „Autonomie am Lebensende“ erstellt wurden und für eine individuelle Verfügung genutzt werden können (www.bmj.bund.de).

„Noch besser ist es, wenn man im Familienkreis genau und klar bespricht, was man sich wünscht, sozusagen unter Zeugen“, rät Jonitz. Und er fügt hinzu: „Wenn man den Hausarzt einbezieht und sich von ihm beraten lässt, kann das auch nicht schaden.“ Zusätzlich zu Gesprächen und schriftlichen Verfügungen, die die eigenen Vorstellungen klarlegen, sollte man auch einen Bevollmächtigten bestimmen. Er ist dann offiziell legitimiert, die Interessen des äußerungsunfähigen Kranken zu vertreten. Er oder sie sollte auch wissen, dass es eine Patientenverfügung gibt – und wo sie zu finden ist.

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