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Politik: Kassen-Abrechnung: Der Kittel weiß, die Weste nicht immer

Nicht alle sind so dreist wie jener Mediziner aus dem Berliner Umland. Der geschäftstüchtige Neurologe, gegen den inzwischen die Staatsanwaltschaft ermittelt, stellte der AOK Brandenburg eine seltsam anmutende Leistung in Rechnung: Er wollte einer 84-Jährigen ein Diaphragma eingesetzt haben.

Nicht alle sind so dreist wie jener Mediziner aus dem Berliner Umland. Der geschäftstüchtige Neurologe, gegen den inzwischen die Staatsanwaltschaft ermittelt, stellte der AOK Brandenburg eine seltsam anmutende Leistung in Rechnung: Er wollte einer 84-Jährigen ein Diaphragma eingesetzt haben. Dass die alte Dame die Empfängnisverhütung auch deshalb nicht mehr benötigte, weil sie zu diesem Zeitpunkt längst verstorben war, setzte dem offensichtlichen Betrugsmanöver die Krone auf - und lehrte selbst einen in Sachen Abrechnungsmanipulation erfahrenen AOK-Sprecher das Staunen. "Der Neurologe ist mit einer Augenärztin verheiratet", sagt Jörg Trinogga. "Offenbar hat er sich so die Patientendaten beschafft und dann einfach irgendwelche Leistungen abgerechnet."

Mit der Risikolosigkeit solcher Geschäfte ist es vorbei. Seit zweieinhalb Jahren fahndet Brandenburgs AOK mit einer siebenköpfigen Abteilung nach Abrechnungsbetrügern. Knapp 100 hat sie bereits erwischt und zur Anzeige gebracht - die Fälle strenger Ermahnung und verordneter Wiedergutmachung gar nicht eingerechnet. "Die Hemmschwelle ist niedrig", sagt Trinogga. "Wir können das nicht laufen lassen."

Diese Einsicht greift um sich. Nach den Vorreitern in Niedersachsen, die den Betrügern in Weiß schon seit dreieinhalb Jahren das Leben schwer machen und im Schnitt jeden Tag zwei neue erwischen, machen die AOKs inzwischen allerorten mobil. "Wir sind dabei, entsprechende Aktivitäten überall aufzubauen", sagt Udo Barske, der Sprecher des AOK-Bundesverbands.

Auch die Ersatzkassen blasen zur Jagd auf Abrechnungsjongleure. Die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) will im September erstmals Ermittler einsetzen. Man sei es den Versicherten schuldig, "den Betrügern mit allen Mitteln das Handwerk zu legen", begründet Vorstandschef Ingo Kalluweit den Vorstoß. Es gebe "erheblichen Handlungsbedarf", meint auch Doris Pfeiffer, die Sprecherin des Bundesverbands der Angestellten-Krankenkassen (VdAK). Zur Betrugsbekämpfung wurde dort eigens eine "Planungs-und Koordinierungseinheit" installiert, bei der die Fäden zusammenlaufen sollen. Am Netz - VdAK-Fahndungsstellen in jedem Bundesland - wird noch gesponnen.

Die Betriebsamkeit hat ihre Gründe. Schätzungen zufolge verursachen betrügerische Ärzte pro Jahr Schäden im dreistelligen Millionenbereich. Genaue Zahlen gibt es nicht, doch unter Insidern wie Martin Schüller hat sich der Eindruck verfestigt, dass es sich "längst nicht mehr nur um einzelne schwarze Schafe handelt". Schüller ist Referent einer "Arbeitsgruppe Abrechnungsmanipulation" der Spitzenverbände aller gesetzlichen Krankenkassen. "Je näher man hinguckt, desto mehr entdeckt man", sagt er - und spricht von einer "riesigen Grauzone, die man einfach verengen muss".

Etwa durch Zusammenarbeit. Auf Drängen der Kassen weist das Bundeskriminalamt (BKA) die Fälle von Abrechnungsbetrug nungesondert aus. 13 476 waren es 1999, 17 368 im Jahr 2000. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) bekam auch eine Liste von Betrugsindikatoren an die Hand. Arbeitszeiten von mehr als 16 Stunden pro Tag etwa gelten demnach als verdächtig. Oder Umsätze, die um mehr als 25 Prozent über denen von Fachkollegen liegen.

Intern hat auch die KBV eine härtere Gangart angekündigt. Ohne die Kassenärztlichen Vereinigungen, die das Geld an die Ärzte verteilen, bleiben die Kassen auf Kommissar Zufall angewiesen. "Wir können nicht mal feststellen, ob ein Zahnarzt seinem Patienten zweimal denselben Zahn zieht", sagt VdAK-Sprecherin Pfeiffer. Schuld daran ist ein Abrechnungssystem, das den Datenschutz obenan stellt. Die Kassen erhalten nur anonymisierte Sammelbelege. Allerdings bastelt die Regierung bereits an einem Transparenzgesetz. Die Möglichkeit, Arztrechnungen von Patienten quittieren zu lassen, ist darin aber nicht vorgesehen. Dabei ließen sich so "zumindest die größten Unverschämtheiten" ausschließen, meint AOK-Sprecher Trinogga. Von einer toten Patientin hätte oben genannter Neurologe seine Diaphragma-Rechnung kaum unterschrieben bekommen.

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