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Pflegekind

© Utw Grabowsky/Imago

„Katastrophe für die Kinder“: Gesetzentwurf aus dem Familienministerium entsetzt Fachleute

Experten befürchten, dass Franziska Giffeys Ministerium das Wohl tausender Pflegekinder einem politischen Kompromiss opfert.

Von Caroline Fetscher

Gute Pflegefamilien sollten Schutzräume sein. Dort erholen sich Kinder von den traumatischen Zuständen ihrer Herkunftsfamilien, in denen Alkohol, Misshandlungen, Missbrauch oder Vernachlässigung Alltag waren. Doch über Pflegefamilien hängt in Deutschland stets die bedrohliche Wolke.

Jederzeit können leiblichen Eltern, etwa nach einem Drogenentzug, beantragen, dass die Kinder „zurückgeführt“ werden. Läuft es danach wieder schief – wie oft der Fall - muss eine neue Pflegefamilie gesucht werden, der Platz in der vorigen ist meist schon weg. Aufgrund des „Befristungsdogmas“ fährt die kindliche Psyche Achterbahn. Dauerhafte Sicherheit fehlt.

Diese Zustände sollte eine Gesetzesreform von Franziska Giffey Familienministerium ändern, und Anordnungen zum „Dauerverbleib“ klar regeln. In einem Gesetzesentwurf vom 26. August 2020, geprüft von Familienministerium, Justizministerium und Experten, war dieses Ziel völlig klar. Doch seit 5. Oktober liegt überraschend eine weitere Neufassung des Referentenentwurfs vor, von der Fachleute entsetzt sind.

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Sind die biologischen Eltern immer das Beste für das Kind?

In der deutschen Gesetzgebung hält sich jedoch der Mythos, biologische Eltern seien „das Beste für ein Kind“. Deshalb werden „Verbleibensanordnung“ oft wieder aufgehoben, und es entstehen die typischen Kinderkarrieren aus abgerissenen Beziehungen – der Stoff, aus dem Sozialdramen oder Krimis werden. Gegen die verfehlte Praxis wenden sich juristische und psychologische Experten seit Jahren.

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Zu den prominenten Kritikern zählt der Psychiater Jörg Fegert von der Universitätsklinik Ulm, ebenso der Deutsche Familiengerichtstag, das Dialogforum Pflegekinderhilfe, die Pflegefamilienverbände und die Stiftung zum Wohle des Pflegkindes. Von ihnen allen liegen jetzt alarmierte Stellungnahmen vor zum neuen Entwurf des „Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen“.

Hat die CDU-Fraktion die Änderungen angetrieben?

Wesentliche Passagen wurden offenbar in letzter Minute abgeändert. Vor allem der neue Wortlaut für § 1696 Absatz 3 schockiert die Fachleute. Danach kann die Herausnahme eines Kindes auf Antrag der Eltern sogar dann aufgehoben werden, wenn „der Gefährdung des Kindeswohls innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes vertretbaren Zeitraums auf andere Weise, auch durch öffentliche Hilfen anlässlich seiner Rückführung zu den Eltern, begegnet werden kann.“

Im Klartext: Kinder sollen auch dann probeweise zu leiblichen Eltern zurück, wenn die Situation dort potentiell gefährdend ist, Hauptsache, die Familienhilfe ist involviert. Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der „Deutschen Kinderhilfe“ und Polizeidirektor a. D., erklärt: „Stundenweise Familienhilfen können rund um die Uhr bestehende Risiken für Kinder nicht kompensieren.“ Jörg Fegert mahnt, die medizinethische Formel „Vor allem nicht schaden“ müsse auch für staatliches Vorgehen gelten.

Der Deutsche Familiengerichtstag (DFGT) mahnt, der Entwurf dürfe „nicht Gesetz werden“. „Für viele Pflegekinder wäre diese ethisch nicht vertretbare Experimentierklausel katastrophal“, erklärt der Jurist Ludwig Salgo von der Universität Frankfurt, Experte bei der Kinderkommission des Bundestages.

Eklatante Mängel in der Pflegekindschaft

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Als treibende Kraft hinter den Änderungen vermuten Fachleute Stimmen aus der christdemokratischen Fraktion, wo teils weiterhin das Elternrecht stärker gewichtet wird als das Kindeswohl. Giffeys Ministerium, das die Reform begrüßt hatte, soll sich nun darauf berufen, der umstrittene Teil des Referentenentwurfs stamme aus der Feder des Justizministeriums – es handle sich um einen „politischen Kompromiss“.

Viele aktuelle Reformen im Kinderschutz werden von der Fachwelt begrüßt. So etwa die Fortbildungspflicht für Familienrichter und die verbesserte Anhörung von Minderjährigen am Familiengericht, wo es oft gravierende Fehler gab. Doch in der Pflegekindschaft, dem Bereich der meist schwersten Fälle, sind die Mängel eklatant, zumal der Gesetzgeber verpflichtet ist, Schwebezustände zu beseitigen, die das Kindeswohl gefährden. 

Während das Sozialgesetzbuch vorsieht, dass Pflegekinder auch „auf Dauer“ untergebracht werden, fehlt im Bürgerlichen Gesetzbuch, das für Familiengerichte verbindlich ist, eine Vorgabe, wonach Gerichte anordnen können, dass Kinder dauerhaft in Pflegefamilien bleiben.

Familienministerium nimmt Kritik zur Kenntnis

Hier klafft eine rechtliche Lücke. Längst nehmen Fachleute nicht mehr an, „dass das Interesse der Eltern, mit ihrem Kind wiedervereinigt zu sein, immer mit dem Kindesinteresse identisch ist“, wie der Jurist Walter Pintens für das europäische und vergleichende Familienrecht erläutert. Die vorgesehene Praxis, so die Fachleute, könne auch hohe Kosten durch Therapien oder stationäre Kriseninterventionen nach sich ziehen.

Auf Anfrage des Tagesspiegels teilte ein Sprecher des Familienministeriums am Mittwoch mit, die Länder- und Verbändeanhörung sei abgeschlossen, die Kritik werde „zur Kenntnis genommen“. Eine Kabinettsbefassung solle voraussichtlich noch in diesem Jahr vorliegen.

Ob der Entwurf bereits ein Vorprüfungsverfahren im Kanzleramt durchlaufen hat, war nicht zu erfahren. Das Gesetz solle, so heißt es, „abhängig von Verlauf und Terminierung des parlamentarischen Verfahrens durch den Deutschen Bundestag“, 2021 in Kraft treten. Die Fachleute hoffen nun, dass ihre Einwände bei der für Kinderschutz engagierten Ministerin Giffey auf offene Ohren stoßen.

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