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Opfer und Angehörige von Opfern bei einer Pressekonferenz des Generalstaatsanwalts Josh Shapiro zum Missbrauch durch die Priester.

© Matt Rourke/dpa

Katholische Kirche: Papst-Sekretär nennt Missbrauchsskandale "eigenes 9/11"

Im US-Bundesstaat Pennsylvania sind 1000 Missbrauchsfälle der katholischen Kirche dokumentiert. Die Ermittlungen werden noch Jahre dauern.

Die katholische Kirche durchlebt nach Ansicht von Papst-Sekretär Georg Gänswein aufgrund der eigenen Sexskandale „ihr eigenes 9/11“. Man schaue mit Bestürzung auf den eigenen 11. September, sagte der Präfekt des Päpstlichen Hauses am Dienstag im italienischen Parlament und erwähnte die jüngsten Enthüllungen über Missbrauch und dessen Vertuschung in der katholischen Kirche im US-Bundesstaat Pennsylvania, wie unter anderem die Insider-Webseite des Vatikans berichtete. „Heute ist der 11. September, der in den USA seit dem Herbst 2001 nur 9/11 genannt wird, um der apokalyptischen Tragödie zu gedenken“, fügte Gänswein in Bezug auf die Angriffe des Terrornetzwerks Al-Kaida auf die USA hinzu.

Die Fälle reichen bis in die 1940er Jahre zurück

In Pennsylvania hatten Ermittler im August erschütternde Details über das Ausmaß sexuellen Missbrauchs und dessen Vertuschung in der katholischen Kirche ans Licht gebracht. Die Zahlen des 900 Seiten starken Berichts der Geschworenen von Pennsylvania sind erschreckend. Der US-Bundesstaat hat nach Auswertung einer halben Million Dokumente aus kirchlichen Archiven mehr als 1.000 Missbrauchsfälle dokumentiert. Diese reichen bis in die 1940er Jahre zurück. Ins Visier der Ermittler gerieten dabei rund 300 katholische Priester. Mehr als 100 von ihnen sind bereits gestorben, die meisten übrigen hochbetagt.

Die Verjährungsfristen sind in allen Bundesstaaten verschieden

Und so mündeten die Untersuchungen in nur zwei neue Strafverfahren. Neben dem Alter der Täter sind Verjährungsfristen der Grund dafür: Die Betroffenen selbst konnten nur bis zu ihrem 30. Geburtstag Klage erheben. Die Staatsanwaltschaft kann bis zum 50. Geburtstag des Missbrauchsopfers Ermittlungen aufnehmen. Wenn sich etwa ein Priester 1975 an einem 15-Jährigen verging, ist die Sache schon seit 2010 strafrechtlich endgültig verjährt.

Die Verjährungsfristen sind in den 50 US-Bundesstaaten verschieden - wie auch die Befugnisse der Generalstaatsanwälte zur Einberufung von „Grand Jurys“ wie in Pennsylvania. Mit der Aufarbeitung der teils weit zurückliegenden Fälle beschreiten die Ermittler oft Neuland und bewegen sich in einer Grauzone zwischen juristischer und historischer Aufklärung.

Kein Wunder, dass der Chefankläger von Pennsylvania, Josh Shapiro, seit Veröffentlichung des Missbrauchsberichts im August viel offiziellen Besuch erhielt. Shapiro sagt, Kollegen aus 15 Bundesstaaten hätten sich erkundigt, wie er das rechtliche Räderwerk bei den zweijährigen Ermittlungen zum Laufen bekam. Vor allem für die Generalstaatsanwaltschaft von New York ist das Vorgehen von Interesse, weil der Bundesstaat eine vergleichbare Rechtsstruktur hat. Demnach kann Chefanklägerin Barbara Underwood erst aktiv werden, nachdem lokale Staatsanwälte in ihrem Zuständigkeitsbereich Unterlagen von den Diözesen angefordert haben.

Einige Bistümer verweigerten die Zusammenarbeit

Während sich in Pennsylvania die Bistümer Harrisburg und Greensburg zunächst weigerten, Akten an die Ermittler zu übergeben, haben alle acht Diözesen im Bundesstaat New York volle Bereitschaft zur Kooperation erklärt. Um neue Verfolgungsmöglichkeiten zu eröffnen, werben der katholische Gouverneur von New York, Mario Cuomo, wie auch die Mehrheit der Demokraten im New Yorker Abgeordnetenhaus dafür, per Gesetz für ein Jahr ein Fenster für rückwirkende Klagemöglichkeit zu öffnen. Doch die Republikaner im Senat des Bundesstaates blockieren entsprechende Bemühungen, unter anderem wegen verfassungsrechtlicher Bedenken.

Entschädigungszahlungen - wenn nicht geklagt wird

Unterdessen hat die Kirche ein freiwilliges Entschädigungssystem geschaffen. Allein das Erzbistum New York hat nach Angaben seines Sprechers Joseph Zwilling an 278 Betroffene fast 60 Millionen Dollar ausgezahlt. Im Gegenzug mussten diese auf jede künftige Klage verzichten.

Ähnlich verhalten sich viele Diözesen in den Staaten Nebraska, Missouri, New Jersey, New Mexico und Illinois, wo die Generalstaatsanwälte ebenfalls Ermittlungen angekündigt haben. Weitere werden voraussichtlich folgen, da der öffentliche Druck im Land erheblich ist. Selbst wenn es rechtlich in vielen Fällen kaum mehr eine Handhabe gibt, drängen Aktivisten darauf, auf diesem Umweg Licht in das düstere Kapitel institutionell vertuschten Missbrauchs zu bringen.

Auf die Ermittler wartet noch jahrelange Arbeit

Zuletzt holte der Generalstaatsanwalt von Rhode Island Auskünfte in Pennsylvania ein. Darunter fand sich auch die Frage nach den dafür nötigen Ressourcen. Die Antwort offenbart die Mammutaufgabe, die auf Ermittler und Kirchen gleichermaßen wartet. Auf dem Höhepunkt beschäftigte der Bundesstaat 50 Anwälte und Fachhilfen plus 23 Geschworene, die entschieden, was in den Bericht einfloss. „Das war eine sehr komplexe, arbeitsintensive Ermittlung“, warnt Shapiro seine Kollegen. Sicher wird das Thema die US-Kirche auch jenseits regulärer Strafprozesse noch über viele Jahre verfolgen.

Misshandlungen in katholischem Waisenhaus

Außerdem stehen nun auch mutmaßlich massenhafte Fälle von Misshandlung im Fokus staatsanwaltlicher Ermittlungen. Dabei geht es um ein seit 1974 geschlossenes katholisches Waisenhaus im Bistum Burlington. Der Bundesstaat Vermont und Beamte der Burlington City Police kündigten am späten Montag (Ortszeit) die Bildung einer Task Force an, um Anschuldigungen von Misshandlung, Gewalt und kriminellen Aktivitäten bis hin zu Mord nachzugehen. Bischof Christopher Coyne von Burlington hatte tags zuvor staatsanwaltliche und polizeiliche Untersuchungen für notwendig erklärt, um herauszufinden, was bis zur Schließung des Waisenhauses St. Joseph unter der Leitung des Ordens der „Schwestern der Vorsehung“ geschah. „Der einzige Weg, hier zur Wahrheit zu kommen, ist Kooperation“, sagte er bei einer Pressekonferenz. Coyne sicherte der Task Force volle Unterstützung zu und erklärte, er habe in den vier Jahren seiner Amtszeit in Burlington nur bruchstückhafte Kenntnis über die mutmaßlichen Misshandlungen erhalten.

Körperliche Misshandlungen bis hin zu Todesfällen

Der Verdacht gegen kirchliches Personal, in dessen Obhut sich die Kinder befanden, ist nicht neu. Schon in den 90er Jahren hatte die „Burlington Free Press“ über Misshandlungen von Waisenkindern berichtet. Ende August konkretisierte das Onlineportal „BuzzFeed“ die Vorwürfe. Neben Schlägen, Einsperren von Kindern in Schränken habe es auch weitere körperliche Misshandlungen bis hin zu mindestens drei Todesfällen gegeben. 1993 hatte sich ein früheres Waisenkind an die Öffentlichkeit gewandt. Danach meldeten sich mehr als 100 weitere mutmaßliche Opfer der Einrichtung. Dutzende ehemalige Heiminsassen erhielten daraufhin jeweils 5.000 US-Dollar für Therapiekosten, verbunden mit der Verpflichtung, auf eine Klage zu verzichten. Nach der Zahlung von insgesamt rund 20 Millionen Dollar an Opfer von sexuellem Missbrauch verkaufte die Diözese 2010 das Gebäude. (dpa/KNA)

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