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Politik: Kein Grund zur Klage

Von Richard Schröder

Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Klagen gegen die Auflösung des Bundestags zurückgewiesen hat, war aus vieler Mund zu hören, nun müsse aber ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages per Verfassungsänderung eingeführt werden. Warum eigentlich? Damit eine vorzeitige Beendigung der Legislaturperiode nicht so oft vorkommt? Sie ist bisher gar nicht oft vorgekommen. Damit Art. 68 nicht wieder durch eine unechte Vertrauensfrage missbraucht wird? An der Stelle haben sich viele Kommentatoren dümmer gestellt, als sie sein können. Bei der Vertrauensfrage geht es doch nicht darum, ob der Bundeskanzler ein ehrlicher Mensch ist, also nicht um das Vertrauen in die Person, sondern darum, ob eine Mehrheit seine Politik, Agenda 2010, fortsetzen möchte. Es geht um das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Regierung hinsichtlich ihrer zentralen Vorhaben. Dass der Widerstand gegen die Agenda 2010 in der SPD wuchs, konnte man doch am Fernseher verfolgen. Otmar Schreiner war auf allen Kanälen und stand nicht allein. Die Wahl in NRW musste diesen innerparteilichen Widerstand stärken. Hätte man in dieser Situation die Legislaturperiode durch eine Selbstauflösung des Parlaments beenden können: Was wäre der Vorteil gewesen? Ich sehe zwei Nachteile. Beim Verfahren nach Art. 68 muss der Kanzler dem Präsidenten seine Gründe für die Vertrauensfrage erläutern, und dieser hat sie zu prüfen. Wenn das Parlament sich selbst auflöst, ist es niemandem Rechenschaft schuldig. Auch dabei können die Abgeordneten verschiedenste, auch entgegengesetzte Motive haben. Gegen ihre Entscheidung gibt es dann kein Klagerecht beim Verfassungsgericht. Warum soll ein Verfahren, bei dem niemand Gründe nennen muss, vor Missbrauch besser schützen?

Der andere Nachteil: Der Bundespräsident hat wenig Kompetenzen. Ist es erstrebenswert, sie zu reduzieren?

An der Entscheidung des Verfassungsgerichts wird gerügt, dass es die Motive des Kanzlers nicht geprüft hat. Tatsächlich hat es lediglich gesagt, der „Einschätzung des Bundeskanzlers ... sei keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen.“ Es hat nicht gesagt, dass die Einschätzung des Bundeskanzlers richtig oder zwingend ist. Wer das bemängelt, verwechselt das Verfassungsgericht mit dem Jüngsten Gericht. Es ist bloß Schiedsrichter und nicht der Wundertrainer, der dafür sorgt, dass eine (welche?) Mannschaft immer das Richtige tut. Der patriarchale Wunsch nach einer letzten irdischen Instanz scheint in Deutschland unausrottbar zu sein.

Aber ist nicht zu befürchten, dass nun Art. 68 immer häufiger angewendet wird? Dafür habe ich einen traurigen Trost. Einen populären Kanzler im Regen stehen zu lassen, dazu neigt die SPD viel stärker als die CDU. Und dafür wird sie büßen. Sie weiß Macht nicht zu schätzen, das Handwerkszeug der Politik.

Richard Schröder ist Professor für Theologie an der Humboldt-Universität in Berlin.

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