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Politik: Keiner kommt in Frage

Von Susanne Güsten, Istanbul „Der Geist ist aus der Flasche.“ Dieser Formulierung widerstand am Montag kaum ein Leitartikler in der Türkei, nachdem Nationalistenchef und Vize-Ministerpräsident Devlet Bahceli am Sonntag vorgezogene Neuwahlen am 3.

Von Susanne Güsten, Istanbul

„Der Geist ist aus der Flasche.“ Dieser Formulierung widerstand am Montag kaum ein Leitartikler in der Türkei, nachdem Nationalistenchef und Vize-Ministerpräsident Devlet Bahceli am Sonntag vorgezogene Neuwahlen am 3. November gefordert und so die Regierungskoalition faktisch beendet hatte. Nach Informationen des Fernsehsenders NTV traten am Montag zudem Vize-Regierungschef Husamettin Özkan und drei weitere Minister zurück. Özkan gehört der Partei von Ministerpräsident Bülent Ecevit an. Ebenso wie die Minister traten auch 20 Abgeordnete aus Ecevits Partei aus. Damit ist sie nicht mehr stärkste Partei im Parlament.

Über Datum und Modalitäten der Wahlen wird in Ankara noch gestritten, doch in die Flasche zurück bekommt Ecevit den Geist nicht mehr. Alle Oppositionsparteien wollen mit den Nationalisten für das vorzeitige Ende der Legislaturperiode stimmen. Die Istanbuler Börse reagierte mit einem Kurssturz, doch der frühere Weltbankexperte und jetzige Wirtschaftsminister Kemal Dervis blieb gelassen. Wenn die politische Instabilität bald überwunden werde, könnten die ehrgeizigen Ziele des IWF-Reformpakets noch erreicht werden, sagte er. Dervis plädiert seit Wochen für vorgezogene Wahlen.

Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei hängt wie ihre politische Zukunft davon ab, dass die seit Monaten andauernde Lähmung in Ankara überwunden wird. Diese Lähmung war weniger der schweren Krankheit von Ministerpräsident Ecevit geschuldet, als dem politischen Patt zwischen Anhängern und Gegnern der EU-Reformen in seiner Koalition. Der Streit zwischen Bahcelis nationalistischer MHP und den europa- freundlicheren Koalitionspartnern um die Erfüllung der EU-Beitrittskriterien legte die Regierungsarbeit zuletzt völlig lahm. Weil diese Polarisierung alle anderen Themen überlagert, werden die Neuwahlen zu einem Volksentscheid über die europäische Zukunft der Türkei werden. Der Wahlkampf dürfte fast ausschließlich mit dem Thema EU geführt werden, wie Bahceli schon unterstrich: Die EU-Beitrittskriterien, so kritisierte er in einer Rede am Sonntag, stärkten die Terrororganisation PKK.

Wen aber sollen die EU-Anhänger wählen? Ecevits bedingt reformfreudige DSP dürfte ohne ihren greisen Chef bedeutungslos werden. Pro-EU sind die bürgerlichen Parteien Anap von Mesut Yilmaz und DYP von Tansu Ciller; beide sind aber als korrupt diskreditiert und dürften Schwierigkeiten haben, die Zehn-Prozent-Hürde ins Parlament zu überspringen.

Es bleibt die pro-europäisch eingestellte AK-Partei des früheren Istanbuler Bürgermeisters Recep Tayyip Erdogan, die in allen Umfragen führt, aber ein gewaltiges Handicap hat: Als – wenn auch gemäßigte – islamistische Partei ist sie für maßgebliche Kreise des türkischen Staates, darunter das Militär, untragbar. Dem AK-Partei-Gründer Erdogan wurde wegen einer islamistischen Meinungsäußerung zudem das Recht aberkannt, seine Partei zu führen. Bis Ende Oktober muss er den Parteivorsitz abgegeben, ob er für das Parlament kandidieren darf, ist offen. Ein Verbotsverfahren läuft außerdem gegen die pro-kurdische Partei Hadep, die im Südosten des Landes ein großes Potenzial hat. Entscheidend für die Richtungswahl wird letztlich sein, ob die mit der Staatsideologie nicht konformen Parteien dazu antreten dürfen.

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