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Politik: „Keiner will Steinbrücks Rücktritt“

SPD-Präsidiumsmitglied Nahles über Fraktionsdisziplin und den Streit mit dem Finanzminister um die Unternehmensteuerreform

Frau Nahles, zählen Sie sich noch zum Führungspersonal der SPD?

Ja.

Nach der Definition Ihres Fraktionschefs Peter Struck hat das Führungspersonal die Mehrheitsbeschlüsse der Fraktion zu vertreten. Sie haben die Gesundheitsreform im Bundestag aber abgelehnt.

Ich akzeptiere die Grundregeln der Arbeit in unserer Fraktion, wonach sich Abgeordnete bei Bundestagsabstimmungen in Sachfragen der Mehrheit der Fraktion anschließen. Bei Gewissensentscheidungen kann diese Regel aber so ohne weiteres nicht gelten. Und die Gesundheitsreform war für mich persönlich eine Gewissensentscheidung.

Struck sieht bei den Abgeordneten die Tendenz, sich unter Berufung auf ihr Gewissen „einen schlanken Fuß“ zu machen.

Über das Gewissen des Einzelnen kann keine andere Instanz als der Abgeordnete selbst entscheiden. Der Abgeordnete hat seinerseits aber auch Verantwortung gegenüber der Regierung, die er im Parlament unterstützt. Das ist ein schwieriger Abwägungsprozess. Ich habe mir die Entscheidung jedenfalls nicht leicht gemacht.

Sieben von elf Gesundheitsexperten wollten die Mehrheitsmeinung der Fraktion im Gesundheitsausschuss nicht vertreten. Kann sich eine Regierungsfraktion das erlauben?

Das ist auf jeden Fall eine schwierige Situation.

Also war Struck zu Recht verärgert?

Ich kann verstehen, dass unser Fraktionschef ein solches Verhalten zukünftig ausschließen möchte. Die Debatte gestern in der Fraktion gibt mir das gute Gefühl, dass uns das auch gelingen wird.

Können Sie die Unternehmensteuerreform mit Ihrem Gewissen vereinbaren?

Für mich ist das keine Gewissensfrage. Jedoch kann ich nur hoffen, dass hier noch Änderungen möglich sind. Das vorgeschlagene Entlastungsvolumen für Unternehmen ist so nicht akzeptabel. Es geht nicht an, dass die Steuerausfälle im ersten Jahr weit über fünf Milliarden liegen und danach nur langsam sinken. Es ist den Bürgerinnen und Bürgern kaum vermittelbar, die bereits vorhandenen und noch zu erwartenden Steuermehreinnahmen zur Finanzierung der Steuerausfälle der Unternehmensteuerreform einzusetzen. Wenn wir durch die gute Konjunktur mehr Steuern einnehmen, müssen wir diese stattdessen in Bildung und Kinderbetreuung investieren.

Finanzminister Peer Steinbrück will nicht nachbessern. Wollen Sie seinen Rücktritt?

Keiner will seinen Rücktritt, dass ist eine abwegige Debatte. In der SPD gibt es einen breiten Konsens für eine Unternehmensteuerreform, die auf einer breiteren Bemessungsgrundlage aufbaut und Steuerschlupflöcher schließt. Aber: Der Parteitag und der Parteirat haben beschlossen, dass die Reform weitgehend aufkommensneutral sein muss. Wir wollen unserem Finanzminister keine Handschellen anlegen. Aber er ist umgekehrt auch gegenüber seiner Partei in der Pflicht. Warum sollte das Absenken des Steuersatzes für Kapitalgesellschaften auf unter 30 Prozent zum Dogma erklärt werden? Die Steuerlast für Unternehmen in Deutschland wurde bereits vor 3 Jahren reduziert und ist international sehr wettbewerbsfähig.

Bei der Rente mit 67 sieht sich die SPD heftiger Gewerkschaftskritik ausgesetzt. Wie wollen Sie den Streit durchstehen?

Die Rente mit 67 ist ein notwendiger Schritt. Der Gesetzgeber muss aber dafür sorgen, dass es frühere Ausstiegsmöglichkeiten aus der Erwerbsarbeit für diejenigen gibt, die wegen jahrelanger körperlicher Belastung in ihrem Job nicht mehr weiterarbeiten können. Die individuelle Erwerbsbiografie muss auch unter den Bedingungen der Rente mit 67 berücksichtigt werden.

Wie?

Zum Beispiel durch flexible Altersteilzeit oder erleichterte Zugänge zu Erwerbsminderungsrenten für Betroffene, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben. Die starre Altersteilzeit muss in eine Altersgleitzeit umgebaut werden. Für mich ist die Altersgleitzeit der Zwillingsbruder der Rente mit 67. Das muss bereits in der nächsten Woche als klarer Wille der SPD zum Ausdruck gebracht werden.

Das Gespräch führte Stephan Haselberger

Andrea Nahles zählt zur SPD-Linken und ist seit 1997 Mitglied im Parteivorstand. Seit 2003 gehört sie dem SPD-Präsidium an. Von 1995 bis 1999 war sie Juso-Bundeschefin.

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