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Auf der Suche nach Lösungen für das Problem Kinderarmut.

© Karikatur: Klaus Stuttmann

Kinderarmut in Deutschland: Es liegt nicht an der Agenda 2010

Knapp jedes siebte Kind unter 18 Jahren lebt in einer Familie, die auf staatliche Leistungen angewiesen ist. Das ist ein Skandal. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Lutz Haverkamp

Deutschland 2016: Die Wirtschaft brummt, Millionen Arbeitslose haben in den vergangenen Jahren einen neuen Job gefunden, die Einführung des Mindestlohns hat vielen arbeitenden Menschen einen Lohnzuwachs beschert und nicht – wie von vielen Kritikern und selbsternannten Experten beschrien – zu einem nachhaltigen Jobabbau geführt.

Deutschlands Nachbarn und EU-Partner beneiden uns um die wirtschaftliche Situation. Deutschland gilt als Wachstumsmotor für Europa, die Marke "Made in Germany" wird immer noch weltweit hoch geachtet und gekauft. Die Deutschen selbst geben ihr Geld gerne aus, statt es in Mini-Zinsen-Zeiten auf die hohe Kante zu legen. Das alles hält die Volkswirtschaft auf Touren, bringt viel Geld ins Land, in die staatlichen Kassen, auch in viele private. Der Bundesfinanzminister macht keine neuen Schulden mehr, die Sozialkassen häufen Überschüsse an, die Politik erhöht die Sozialausgaben und beschließt kostenintensive Wohlfühlprogramme. Der Laden läuft, möchte man meinen.

Vielerorts stimmt das und ist mit harten Zahlen zu belegen. Dennoch beschleicht viele Menschen ein seltsames Gefühl, wenn nicht gar unbändige Wut angesichts der jüngsten Zahlen zur Kinderarmut in Deutschland. Bundesweit lebten im Jahr 2015 fast 15 Prozent der unter 18-Jährigen in Familien, die auf staatliche Unterstützung angewiesen waren – knapp jedes siebte Kind, 0,4 Prozent mehr als 2011. Das ist schlicht und ergreifend ein Skandal. Der Skandal wird dadurch noch größer, dass Armut in jungen Lebensjahren Folgen für das ganze Leben haben kann, ja oft genug hat.

Armut geht häufig einher mit ungesunder Ernährung, geringerer Bildung, schlechterer Gesundheit. Armut (selbst die relative) ist ungerecht, Armut benachteiligt. Armut in einer reichen Gesellschaft ist der manifestierte Egoismus der Besitzenden. Armut ist der gesellschaftliche Ausdruck einer fehlgeleiteten Politik. Armut ist die sichtbare Arroganz und Ignoranz derer, die sie hinnehmen. Zu materieller Armut gesellen sich kulturelle und soziale Ausgrenzung. Und Kinderarmut ist die hohe Potenz von allem, weil Kinder von Armen und arme Kinder keine Lobby und keine Macht haben und oft außerhalb der Wahrnehmung der Gesellschaft leben.

Kinderarmut gab es schon vor der Ära Schröder

Was ist zu tun? Deutschland muss zum Beispiel anerkennen – und dazu stehen –, dass die Agenda 2010 des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (Hartz IV ff.) ein richtiger Schritt war, um Verkrustungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt aufzubrechen und mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Die Agenda 2010 ist nicht die oft zitierte Ursache für Kinderarmut, denn die gab es vor der Schröder-Ära – leider – auch schon. Die Politik der damaligen rot-grünen Koalition, die fortschreitende Globalisierung, die Schaffung neuer Beschäftigungsverhältnisse und die Politik unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel haben wirtschaftliche Vorteile für sehr viele Menschen gebracht.

Aber die Politik der vergangenen Jahrzehnte hat offensichtlich nicht dazu geführt, dass es für bildungsferne Schichten, Alleinerziehende und kinderreiche Familien einfacher geworden ist, eigenverantwortlich ein eigenes materielles – und damit soziales und kulturelles – Auskommen für sich selbst und die eigenen Kinder zu organisieren.

Also: Helfen wir ihnen dabei! Schaffen wir endlich nachhaltige und umfängliche Strukturen, die verhindern, dass Kinder zum Armutsrisiko für Familien und Alleinerziehende werden. Das ist kein Erkenntnisproblem, das ist ein Umsetzungsproblem. Die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft hängt nicht zuletzt davon ab, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Ganz besonders hängt sie davon ab, welche Chancen sie ihren Kindern und Jugendlichen ermöglicht. Armut in einer reichen Gesellschaft wie der deutschen ist zwar bittere Realität der Gegenwart. Aber eine Option für die Zukunft darf sie nicht sein.

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