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Politik: Klärende Krise

Von Wolfgang Schäuble

Heute blickt Europa auf Frankreich. Mit dem Ausgang des Referendums entscheidet sich das Zustandekommen des Europäischen Verfassungsvertrags. Bei einem Nein ist er gescheitert, weil die EU ohne Frankreich nicht denkbar ist. Ein Ja wird dem Ratifizierungsprozess zusätzlichen Schub verleihen. Am Ende könnten die Briten nur noch entscheiden, ob sie dabei sein wollen oder nicht – aufhalten könnten sie den Prozess nicht, weil sie bisher zu sehr gezögert haben, eine Führungsrolle in Europa zu übernehmen.

So viel also vom Ausgang des französischen Referendums für den Verfassungsvertrag abhängt, so wenig entscheidet sich damit das Schicksal des europäischen Einigungswerks. Ein Scheitern des Verfassungsvertrags würde zwar eine Krise nach sich ziehen, aber auch dann gelten die bestehenden Verträge fort. Kommt der Verfassungsvertrag zustande, verbessert sich manches an Entscheidungseffizienz und demokratischer Legitimation, die Identifikation der Europäer mit der EU wird durch die Ratifizierung gewiss bestärkt. Aber diese Identifizierung der Menschen in Europa mit der EU als einer politischen Schicksalsgemeinschaft ist damit noch nicht erreicht. Um den Prozess zu verstärken, bedarf es größerer Klarheit in dreierlei Hinsicht:

* in der Frage, was Europa künftig entscheiden und was weiterhin oder verstärkt in der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten verbleiben soll, also die richtige Verbindung von Vielfalt und Einheit

* in dem Selbstverständnis über die Rolle Europas in der Welt, die grundlegende außen- und sicherheitspolitische Ausrichtung der EU

* und in der Frage der Grenzen, weil Überdehnung Identität ebenso schwächt wie die Bereitschaft zu Solidarität.

Zu Letzterem ist im Zusammenhang mit der Türkei derzeit alles Notwendige gesagt. Zum außenpolitischen Selbstverständnis hat der französische Philosoph Andre Glucksmann im Tagesspiegel zu Recht gewarnt, dass Europa spalte, wer es als antiamerikanische Macht aufbauen wolle. Und in der Frage der Kompetenzverteilung zwischen europäischer und nationaler Ebene muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass zu viel Harmonisierung eher zu Überregulierung und Lähmung statt zu mehr Dynamik und Wohlstand führt. Dezentralisierung und Subsidiarität sind überlegene Ordnungsprinzipien, weil Freiheit und soziale Verantwortung nicht unterfordert werden dürfen, sondern sich im Wettbewerb bewähren müssen. Diese Klärungen müssen geleistet werden, und das wird unabhängig vom Ausgang des französischen Referendums nicht ohne Krise abgehen. Aber darin liegt auch die Chance, wieder und genauer zu begreifen, welch Glücksfall die europäische Einigung ist, für alle in Europa und nicht zuletzt für uns Deutsche. So kann sich europäisches Bewusstsein bilden, das uns Europäer zusammenhält und das dem nahe kommt, was der französische Historiker Ernest Renan „das tägliche Plebiszit“ genannt hat.

Der Autor ist CDU-Präsidiumsmitglied

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