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Politik: Können wir stolz sein, Herr Bahr?

Der SPD-Politiker, damals Chefredakteur beim Rundfunksender Rias, über den Aufstand vom 17. Juni, Zivilcourage im Osten, Resignation im Westen – und was ihm die Bauarbeiter von der Stalinallee sagten

Herr Bahr, 36 Jahre lang war der 17. Juni in der Bundesrepublik ein Feiertag. Mit der Einheit 1990 wurde er abgeschafft und durch den 3. Oktober ersetzt. War das falsch?

Der 17. Juni war als Gedenktag zur ritualisierten Routine geworden. Das würde auch so bleiben, wenn man die Abschaffung wieder rückgängig machte. Dennoch freue ich mich, dass wir aus Anlass des 50. Jahrestages nun aus dem Ereignis eine Riesenangelegenheit machen. Ich hoffe, diese Gedenkorgie trägt dazu bei, die Erinnerung an diesen seltenen Tag in der deutschen Geschichte neu zu wecken. Denn man kann eine Verbindung vom 17. Juni 1953 zum Fall der Mauer am 9. November 1989 ziehen: Weil in beiden Fällen der kleinere, bedrängte Teil des deutschen Volkes Geschichte gemacht hat. Ich hätte es deshalb gut gefunden, wenn der 9. November unser Nationalfeiertag geworden wäre.

Es ist aber doch der 3. Oktober geworden …

… aus westdeutschen Erwägungen. Weil das der Zeitpunkt war, von dem aus man frühestens gesamtdeutsche Wahlen ins Auge fassen konnte. Aber im Prinzip haben die Westdeutschen für die Einheit nichts getan. Die Ostdeutschen haben was dafür getan.

Sie selbst waren unmittelbar an den Ereignissen des 17. Juni beteiligt. Fast auf den Tag vor 50 Jahren standen Bauarbeiter aus der Stalinallee vor Ihrem Schreibtisch im West-Berliner Rundfunksender Rias. Sie haben danach geschrieben: „Es war tragisch, helfen zu wollen und nicht unmittelbar helfen zu können.“ Warum konnte man nichts tun?

Was hätten wir denn tun können?

Vielleicht zum Aufstand oder zum Streik in der sowjetisch besetzten Zone aufrufen.

Ein Sender unter amerikanischer Kontrolle? Undenkbar! Ich habe die Männer aus der Stalinallee gefragt: Gibt es irgendwelche Vorbereitungen, eine Form der Organisation? Nichts. Es gibt aber keine Revolution ohne Organisation. Dann, zwei Stunden nachdem wir die Forderungen der Streikenden verbreitet hatten, kam der amerikanische Direktor des Rias in mein Büro und gab mir zum ersten und einzigen Mal eine Anweisung: Der Aufruf wird nicht noch einmal gesendet.

Womit begründete er das?

Mit der Frage, ob der Rias einen dritten Weltkrieg auslösen wolle. Das hatte ihm der US- Botschafter gesagt. Meine Argumente, dass das nicht passieren werde, interessierten den Direktor nicht. Weisung war Weisung.

Was haben Sie gefühlt, als Sie die Weisung befolgten?

Wir haben uns als Objekte gefühlt. Und es gab auch das Empfinden, dass die Amerikaner Angst haben: Um Gottes willen, lass uns bloß nichts tun, was den labilen Zustand Berlins in Frage stellt! Ich habe damals leider nicht an das gedacht, was eigentlich nahe lag: Amerikas Verhalten war ein Zeichen für das Status-quo-Denken der vier Siegermächte. Das ist mir in aller Brutalität erst beim Mauerbau am 13. August 1961 aufgegangen.

Sie haben in einem Kommentar am 18. Juni davon gesprochen, es wäre ein Kleines gewesen, durch einen flammenden Aufruf West-Berlin auf die Beine zu bringen, und wer hätte sich versagt. Dass das nicht passierte, lag also an den Amerikanern?

Ja. Aber es lag auch an den Engländern und Franzosen. Wir waren nicht schuld. Was hätten wir denn machen sollen? Rübergehen? Gegen die sowjetischen Panzer kämpfen? Die Sache war schon in dem Augenblick, als sie begann, im Grunde aussichtslos. Das, was hätte gelingen können, wäre eine neue DDR-Regierung gewesen. Es war ja ein Erfolg des 17. Juni, dass das Volk die SED vor aller Welt diskreditiert hatte. Womöglich hätte Moskau der Einsetzung einer Regierung der so genannten bürgerlichen Parteien zugestimmt. Dann hätten wir vielleicht schon früher über die Wiedervereinigung verhandelt. Aber die besetzte Zone hätten sich die Sowjets durch die Einwohner selbst nie abpressen lassen.

Aber 1953 war ein Jahr des Umbruchs und der Unsicherheit. Stalin war tot, die Gründung der beiden deutschen Staaten lag erst vier Jahre zurück. Da waren die Verhältnisse doch noch nicht zementiert, es gab Bewegung. Diese Situation hätte der Westen nutzen können.

Nach Stalins Tod gab es in der Tat in Moskau eine große Verunsicherung. Aber dass in einer solch labilen Zeit keine großen Zugeständnisse in Sachen Deutschland zu erwarten waren, darüber waren sich im Westen alle einig. Leider haben wir übersehen, welcher Schock es psychologisch für die Ostdeutschen war, dass der Westen ihnen nicht half. Sie blieben auf sich allein gestellt. Von den Vorgängen in Moskau um Geheimdienstchef Berija haben wir erst viel später erfahren.

Der Tagesspiegel war damals enttäuscht vom Rias. Es gab Kommentare in der Zeitung, der Sender habe sich zu sehr zurückgehalten. Hatten die Kommentatoren Recht?

Nein, selbst der Tagesspiegel kann irren. Wir haben damals, da bin ich auch bei harter, selbstkritischer Rückschau überzeugt, das Äußerste getan, was möglich war. Wir haben die Forderungen der Streikleitung öffentlich gemacht, bis die Amerikaner das untersagten. Als wir dann von der Parole „Strausberger Platz, sieben Uhr“ erfuhren und Angst bekamen, da gehen nur ein paar Leute zur Demonstration und die werden dann verhaftet, wollten wir das verhindern. Also wurde der DGB-Vorsitzende von uns alarmiert. Wenn Berlins DGB-Chef nämlich etwas sagt, kann man es senden. Wir haben dann die ganze Nacht im Rias gesessen und überlegt. Am nächsten Morgen haben wir einen unserer Amerikaner rübergeschickt, um zu gucken, was am Strausberger Platz los ist. Der kam wieder und meldete: Es summt. Damit waren wir erst mal zufrieden.

Hätten Sie gerne mitgesummt?

Nein. Wenn Sie Chefredakteur sind, müssen Sie an ihrem Pult bleiben.

Was war dieser 17. Juni eigentlich? Der deutsche Sturm auf die Bastille ohne anschließende Revolution? Eine Art Vorspiel für den Beginn der Erhebungen im Ostblock, die dann in Ungarn 1956 und beim Prager Frühling 1968 folgten?

Das widerspricht sich doch nicht! Damals dachte ich: Das ist das erste Mal, dass so etwas in unserem Land passiert. Heute sehe ich den 17. Juni in Kontinuität mit der Revolution von 1848: Deutsche begehren auf gegen eine als ungerecht empfundene Obrigkeit. Das gab es in unserer Geschichte nicht oft.

Wo waren am 17. Juni 1953 eigentlich die Intellektuellen, die später in Ungarn und in Polen so eine große Rolle bei den Aufständen gespielt haben?

Denken Sie doch bloß mal an die ungeheure Geschwindigkeit, in der das alles geschah. Am 16. Juni mittags, erfuhren wir, dass etwas im Gange ist. Am Mittag des 17. Juni wurde der Ausnahmezustand verhängt. Das sind gerade mal 24 Stunden. In so kurzer Zeit entwickelt sich keine Intellektuellen-Bewegung.

Und wo waren die Sozialdemokraten?

Ich glaube, dass ihnen die Zwangsvereinigung zur SED das Rückgrat gebrochen hatte. Sicherlich waren unter den Streikenden auch Sozialdemokraten. Aber sie sind nicht als solche hervorgetreten.

Während im Osten die Sozialdemokraten nicht in Erscheinung traten, hat die SPD im Westen mit Herbert Wehner massiv darauf hingewirkt, dass aus dem 17. Juni der Tag der deutschen Einheit wurde, gewissermaßen der Versuch einer Traditionsgründung, die in ritualisierten Gedenktagen endete.

Der 17. Juni ist vom Westen zu spät gesehen worden, zum Teil völlig wirklichkeitsfremd. Ich war zum Beispiel völlig überrascht, als mein Nachrichtenchef mir mitteilte, Konrad Adenauer habe gewarnt, das Ganze sei nur eine sowjetische Provokation. Vor kurzem habe ich mir das Jahrbuch der CDU von 1953 angeschaut. Es trug den Titel „Jahr der Entscheidung“. Aber das bezog sich nicht etwa auf den 17. Juni, sondern auf das Wahlergebnis desselben Jahres. Sowohl von der CDU und der Bundesregierung als auch von der SPD wurde der Gedenktag 17. Juni als Besänftigung für das schlechte Gewissen benutzt. Das ist wirklich keine ruhmvolle Geschichte.

Lag die mangelnde Aufmerksamkeit im Westen daran, dass man sich 1953 mit der Zweistaatlichkeit schon abgefunden hatte?

Psychologisch auf jeden Fall. Nach dem Bau der Mauer noch mehr. Wissen Sie, das deutsche Volk hat immer nach Westen geguckt. Die Westdeutschen haben nach Westen geguckt, auch die Ostdeutschen haben nach Westen geguckt. Und die Blicke beider haben sich nie getroffen.

Wohin hat Egon Bahr geguckt?

Wann?

Mitte der 50er Jahre.

Ich habe mich natürlich auch entwickelt. 1953 war ich noch ein Kalter Krieger. Wir fühlten uns in Berlin bedroht und, mein Gott, es war ja auch so. Ich habe 1954 dann die Illusion gehabt, von außen, über ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem die Voraussetzungen zur deutschen Einheit zu schaffen. Es blieb meine Grundauffassung bis 1990, dass unsere Nachbarn Sicherheit vor Deutschland haben wollten, bevor sie uns in die Freiheit der Einheit entlassen.

1953 war also das Geburtsjahr der Ostpolitik?

Nein. Die Geburtsstunde der Ostpolitik war der Bau der Mauer.

Hat man mit der Ostpolitik nicht diejenigen außen vor gelassen, die am 17. Juni auf die Straße gegangen waren und für Demokratie und Einheit demonstriert hatten?

Die Lehre aus 1953 und den Aufständen in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968 war, dass man von unten das Regime nicht stürzen kann.

In Polen hat es aber geklappt!

Als das in Polen anfing, dachte ich: Müssen denn die Verrückten noch mal erleben, dass der Westen protestiert und schreit, aber nichts tut? Ich dachte, Solidarnosc ruft zum Generalstreik wegen der Erhöhung der Zigarettenpreise auf. Hinterher musste ich mich korrigieren, als ich feststellte, dass die Polen sehr viel besser wussten als wir, bis zu welchem Belastungsgrad sie es treiben könnten, ohne dass die Sowjets einmarschieren.

Der 17. Juni wird ja gerne als Schlüsselereignis der Nachkriegsgeschichte bezeichnet. Aber Schlüssel wozu? Die eine Lesart wäre, dass der 17. Juni der Anfang des Endes der DDR war, also auf 1989 zugeht. Die andere Lesart lautet, der 17. Juni hat die DDR-Herrschaft gefestigt.

Dieser Tag hatte für diejenigen, die dabei waren, Langzeitwirkung im Gehirn.

Vor allem bei der SED und der Stasi.

Na klar. Ich habe mal mit dem Politbüromitglied Hermann Axen über den 17. Juni gesprochen. Der hat gesagt: Die Lehre heißt, wenn im Kessel der Druck steigt und man hebt den Deckel an, fliegt er einem um die Ohren. Also hat die SED-Führung gedacht: Um Gottes willen, nie mehr nachgeben. Ein Teil der Starrheit, die zu einem Nagel des DDR-Sarges wurde, kam durch den 17. Juni.

Revolution am 18. März 1848, Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, Aufstand gegen die SED am 17. Juni 1953 – alles wichtige Daten. Aber machen wir mit ihnen die deutsche Geschichte nicht schöner, als sie war?

Gegenfrage: Warum sollten wir sie verstecken? Wir haben so viele belastende Daten in unserer Geschichte. Sollten wir da nicht die wenigen guten Tage hoch achten und schätzen? Gerade der 17. Juni gehört zu den wenigen guten Daten in der Geschichte des deutschen Volkes, die erinnernswert sind.

Erinnernswert als was?

Als Tage, auf die man stolz sein kann.

Warum stolz?

Weil Deutsche Zivilcourage gezeigt haben.

Stolz oder Freude spürt man hier bei keinem Gedenktag. Die Franzosen feiern ihren Nationalfeiertag mit Paraden und Festen, wir Deutschen veranstalten Podiumsdiskussionen …

(lacht) Es lebe der große Unterschied! Wir können uns nicht mit Frankreich vergleichen. Die deutsche Vergangenheit darf zwar die europäische Zukunft nicht behindern. Aber wir haben auch eine geschichtliche Bringschuld gegenüber Europa: die Normalität, die Ausgewogenheit. Das heißt, Stolz ohne Überheblichkeit.

Auch ohne Freude?

Hoffentlich kommt noch etwas Freude dazu.

Wir tun uns noch schwer mit der Einheit. Das zeigt sich auch zum 50. Jahrestag des 17. Juni. Von 500 Veranstaltungen finden nur wenige im Westen der Republik statt. Sind die Reden und Diskussionen nur Therapieveranstaltung für die Ostdeutschen, nach dem Motto: Wir tun etwas, damit ihr ein gutes Gefühl habt?

Das ist übertrieben. Im Fernsehen laufen viele gute Filme über den 17. Juni, auch mit persönlichen Schicksalen verknüpft. Ich glaube, diese Sendungen werden ihre Wirkung auch auf Menschen im Westen haben.

Wir können also darauf hoffen, dass die Westdeutschen irgendwann auch mal stolz auf die Ostdeutschen sein werden? Bis jetzt hat man ja nicht das Gefühl.

Ihr Gefühl ist richtig. Ihre Hoffnung auch.

Das Gespräch führten Christian Böhme, Robert Ide und Hermann Rudolph.

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