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Politik: Kohl-Rede: Große Taten, kleinmütige Worte

Ist Helmut Kohl ein großer Staatsmann? Was für eine Frage!

Von Robert Birnbaum

Ist Helmut Kohl ein großer Staatsmann? Was für eine Frage! Natürlich ist er das. Schade nur, dass man ihn bald nicht mehr unbefangen so wird nennen dürfen.

Es war ja abzusehen, dass der zehnte Jahrestag der Einheit neue Debatten darüber auslösen würde, wer damals was bewirkt, wer was falsch und was richtig gemacht hat. Es war klar, dass über die Deutung der Geschichte Streit ausbrechen wird. Doch dass die Christdemokraten den Kalten Krieg neu auflegen würden, das war eigentlich nicht zu erwarten.

"Verraten" hätten Teile der Sozialdemokratie die Idee der Einheit, hat Kohl gegiftet; kein Sozialdemokrat von Bedeutung habe die Einheit gewollt, hat Fraktionschef Merz behauptet. Mit den Tatsachen hat beides wenig zu tun. Sicher war das gemeinsame Grundsatzpapier von SPD und SED, das Kohl als Beleg für "Verrat" zitiert, kein deutschlandpolitisches Meisterstück. In manchen Passagen war es naiv. Aber es steht doch in der Tradition von Willy Brandts Entspannungspolitik. Sicher hat es in der SPD etliche gegeben, die die Einheit nicht wollten: Oskar Lafontaine, auch Gerhard Schröder. Viele andere haben einfach nicht mehr daran zu glauben gewagt: Brandt, Hans-Jochen Vogel, Erhard Eppler, auch Johannes Rau.

Umgekehrt war es die Union, waren es Helmut Kohl und Franz Josef Strauß, die Erich Honecker in Bonn den roten Teppich ausgerollt und der maroden DDR-Wirtschaft mit Milliarden auf die Beine geholfen haben. Nicht in den Sonntagsreden, wohl aber realpolitisch behandelte Kohl die Teilung genauso als unverrückbare Tatsache wie die Sozialdemokraten.

Nicht zu vergessen: Zum Kanzler der Einheit konnte Kohl gerade deshalb werden, weil er den antikommunistisch-nationalen Ideologie-Ballast der Nachkriegs-Christdemokraten ignorierte. Kohl hat ja nicht "Wiedervereinigung!" gerufen, als in Leipzig der Ruf "Wir sind ein Volk" erscholl, sondern mit seinem Zehn-Punkte-Plan das Eis aufgeweicht. Er hat gegen harten Widerstand die Oder-Neiße-Grenze anerkannt. Er hat sich mit Michail Gorbatschow, aber eben auch mit Hans Modrow eingelassen. Gäbe es heute zwei deutsche Staaten, konföderiert unter europäischem Dach: Hätte dann Kohl damals die Einheit verraten?

Geschichte, im Nachhinein betrachtet, erscheint als logische Abfolge von Ereignissen, Entschlüssen, Handlungen. Sie ist es nicht. Die Sieger der Geschichte haben nicht Recht gehabt, sondern nur gewonnen. Helmut Kohl hat das Wehen des Mantels der Geschichte gespürt und in vielen Momenten richtig erkannt, woher der Wind weht. Das ist sein Verdienst, und kein kleines. Er hat die deutsche Einheit immer als Teil eines Prozesses gesehen und betrieben, an dessen Ende ein neues Europa steht. Das ist sein Verdienst, und ein großes.

Doch nun versucht er den Mantel der Geschichte zu missbrauchen, um seine Blöße zu bedecken. In dem Bestreben, sein vom Spendenskandal beflecktes Bild rein zu waschen, macht er den Ehrentitel des Einheitskanzlers zum taktischen Instrument. Wer damals die Einheit "verraten" hat, hat heute kein Recht zur Kritik - das ist die Kohlsche Logik, die Freund-Feind-Logik des Kalten Krieges. Aber der Einzige, dem er damit schadet, ist er selbst. Wer den Kanzler der Einheit künftig einen großen Politiker nennt, riskiert als Komplize des Spendenbetrügers vereinnahmt zu werden. Es wird wohl Zeit, Helmut Kohl vor sich selbst in Schutz zu nehmen.

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