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Politik: Kollektives Vergessen

Der Putsch vom 19. August 1991 spaltet die russische Nation noch heute

In russischen Kalendern ist der kommende Samstag blassrot gekennzeichnet: kein offizieller Feiertag, aber ein wichtiges Datum. „Ehrentag der Luftwaffe“ steht klein gedruckt als Erklärung dazu. Kein Wort zum Augustputsch, der vor fünfzehn Jahren am selben Tag begann. Statt zu kollektiver Erinnerung, meint der Schriftsteller Michail Schwanezkij, hätten sich die Russen zum kollektiven Vergessen entschlossen. Eigentlich sogar zu kollektiver Verdrängung.

Eine Gruppe von Altstalinisten um den damaligen UdSSR-Vizepräsidenten Gennadij Janajew hatte sich am 19. August 1991 als Notstandskomitee zusammengerottet, um Sowjetmacht und Sozialismus zu retten und die Ergebnisse von Perestroika und Glasnost – Reformen und Transparenz – rückgängig zu machen. Während der Sowjetgeheimdienst KGB in Michail Gorbatschows Urlaubsdomizil auf der Krim alle Telefonleitungen kappte und den Staatschef samt Familie unter Hausarrest stellte, verbarrikadierte sich der im Juni zum Präsidenten Russlands gewählte Boris Jelzin im Moskauer Weißen Haus, dem Sitz des russischen Parlaments, und rief eine demokratische Gegenregierung aus. Tausende stellten sich den Panzern in den Weg, die die Putschisten nach Moskau beordert hatten, und bildeten einen Ring um das Weiße Haus.

Drei Tage später brach die Revolte der Ewiggestrigen in sich zusammen. Gorbatschow kehrte nach Moskau zurück, stand fortan jedoch im Schatten Jelzins. Pläne für eine Erneuerung der Sowjetunion, für die sich im März die Bevölkerung per Referendum entschieden hatte, waren damit vom Tisch. Russland erklärte sich für unabhängig, am Heiligabend nahm Jelzin von Gorbatschow Kremlschlüssel und Atomkoffer in Empfang und begann mit der Demontage der Kommandowirtschaft und der Beseitigung der Relikte des Unterdrückungsstaates.

Noch 1992 nannten die Russen den missglückten Putsch das wichtigste Ereignis des Vorjahres. Bei dessen Wertung taten sich allerdings schon damals Gräben auf, die Russlands Gesellschaft bis heute spalten. Nur hat sich die Gewichtung der einzelnen Gruppen und damit das Urteil der Masse erstaunlich verschoben.

Während noch Mitte der Neunziger gut zwei Drittel überzeugt waren, dass Jelzin und die Demokraten im August 91 im Recht waren, sind es heute noch ganze 13 Prozent. 36 Prozent sprechen von einer Tragödie, 39 Prozent von bloßem Machtgerangel der Eliten, der Rest hatte überhaupt keine Meinung. Einigkeit besteht nur zu einem Punkt: 90 Prozent werfen der Staatsführung vor, die Chancen, die sich damals auftaten, ungenügend genutzt zu haben.

Beim Aufbruch von Punkt A nach Punkt B, fürchtet Schriftsteller Schwanezkij, hätte die Nation sich offenbar verlaufen. Teile der Wanderer drängten daher auf Rückkehr nach A, weil sie glauben, dort etwas Wichtiges vergessen zu haben. Schon allein deshalb könne der Putsch der Altstalinisten nicht als gescheitert abgehakt werden. Gescheitert seien vielmehr die Demokraten. Auch aus eigenem Verschulden. Ihre Stimmen, die zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten zu hören sind, gäben nun mal keinen Chor ab.

Dazu kommt, dass die Demokraten den Raubritterkapitalismus, der im Ergebnis der verkorksten Privatisierung Mitte der Neunziger entstand, als unvermeidliche Begleiterscheinung von Umbrüchen verkauften. Das Volk, meint Schwanezkij, habe daher Probleme, sich zu den Siegern der Ereignisse im August 1991 zu zählen. Denn politischer Pluralismus, Pressefreiheit und andere liberale Errungenschaften der Jelzin-Ära seien für Menschen, die unter oder in gefährlicher Nähe der Armutsgrenze existieren müssen, durchaus verzichtbar.

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