zum Hauptinhalt

Kolumbien: Die Stimmen der Verschwundenen

Das Verschwindenlassen von Menschen ist ein wirksames Instrument des Terrors, und es funktioniert auf der ganzen Welt. In Kolumbien kämpfte Pilar Navarrete 23 Jahre lang um eine Nachricht von ihrem Mann – stattdessen bekam sie ein Urteil.

Pilar Navarrete war 20 Jahre alt und frisch verheiratet, als ihr Ehemann verschwand. Verschwunden wurde, wie es im kolumbianischen Spanisch heißt, das für dieses gewaltsame Phänomen eigene Begriffe entwickelt hat.

Der Tag, an dem Jaime Beltran das kleine, einstöckige Haus im Süden Bogotás verließ und nicht mehr wiederkam, war kein beliebiger Tag. Es war der 6. November 1985, ein sonniger Mittwoch, der sich unauslöschlich in die Erinnerung von Pilar Navarrete eingebrannt hat – und auch in das kollektive Gedächtnis des ganzen Landes.

Kolumbiens politisches Herz, der Bolívar-Platz im Zentrum der von den Anden umgebenen Hauptstadt, wird an diesem Tag Schauplatz einer Schlacht. Eine Guerillagruppe besetzt den Justizpalast, um gegen den schleppenden Verlauf der Friedensgespräche zwischen Guerilla und Regierung zu protestieren. Sie nimmt Geiseln, um die Regierung zur Verhandlung zu zwingen, und die Armee schießt als Antwort den Palast in Brand. Es war eine unverhältnismäßig brutale Reaktion, wie es heute selbst von offizieller Seite heißt. Mehr als 100 Menschen sterben. Pilar Navarretes Mann, der als Kellner in der Cafeteria des Palasts gearbeitet hat, ist nicht unter den Toten. Sie wird ihn dennoch nie mehr finden.

Jaime Beltran ist einer von mehr als 57 000 Menschen, die heute in Kolumbien vermisst werden. Etwa 50 000 von ihnen, schätzen Menschenrechtsorganisationen, werden gewaltsam daran gehindert, nach Hause zurückzukehren – weit mehr als während der argentinischen Militärdiktatur. Wahrscheinlich wurden die Verschwundenen verschleppt, wahrscheinlich gequält. Wahrscheinlich getötet. Das Verschwindenlassen von unliebsamen Bürgern wird weltweit eingesetzt, wo immer Menschen eingeschüchtert und mundtot gemacht werden sollen, es ist ein wirksames Instrument des Terrors. In Argentinien sind die Zeiten inzwischen überwunden, in Kolumbien sind die Zahlen rückläufig, doch in den nordafrikanischen Ländern werden die Diktaturen gerade erst abgeschüttelt. Dort steht den Menschen noch bevor, was Frauen wie Pilar Navarrete hinter sich haben: die Suche nach den vermissten Angehörigen, nach Antworten, nach Gewissheit – und nach einem Ort zum Trauern.

In Kolumbien haben die Suchenden sich damals organisiert, um mehr Gewicht zu bekommen. Und weil die Mehrheit der Verschwundenen Männer sind, kämpfen vor allem Frauen.

Pilar Navarrete ist heute 46 Jahre alt, sie hat noch immer tiefschwarze Haare, die von einer blauen Plastikspange zusammengehalten werden, und ein offenes Lachen, von dem sie sagt, sie habe es sich nicht austreiben lassen. Sie lebt in der Nähe ihres damaligen Hauses, in einem Arbeiterviertel aus rotem Backstein, wo die Acht-Millionen-Einwohner-Metropole Bogotá ruhigen, fast dörflichen Charakter hat. In einem Regal im Wohnzimmer steht neben Fotos der erwachsenen Töchter von Navarrete und Jaime Beltran das Bild eines lachenden jungen Mannes mit dunklen Locken, in 80er-Jahre-Trainingshose, ein Baby auf dem Arm. Beltran war 28, als er verschwand. Er las Groschenromane über Cowboys, er zeichnete gern und spielte Fußball. Ob er politisch war? „Das haben sie auch gefragt“, sagt Navarrete und trommelt mit den Fingern auf den Tisch, das Militär, die Polizei. Als ob er zur Guerilla gehört hätte. Und als ob dadurch gerechtfertigt wäre, dass einer einfach so nicht mehr auftaucht.

Wonach nicht gefragt wurde, sagt Pilar Navarrete, waren Augenfarbe oder Kleidung. Jaime Beltran zu suchen und zu finden – darum ging es nicht.

Wie Pilar Navarrete trotz Morddrohungen weiter sucht, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Die Geschichte der kolumbianischen Verschwundenen beginnt in den späten 1970er Jahren – und mit ihr der Kampf der Angehörigen um Aufklärung und Gerechtigkeit. Guerilla-Bewegungen wie die Farc oder die M-19 kämpften für Landreformen und soziale Rechte und schienen zu einer Bedrohung für die Staatsmacht zu werden. Die nahm Friedensverhandlungen auf, wehrte sich aber zugleich auf andere Weise. Oppositionelle, Gewerkschafter oder Studentenführer wurden von Armee und Polizei festgenommen und tauchetn gar nicht oder erst Monate später wieder auf.

Jaime Beltran hat am Morgen des 6. November das Haus verlassen, ein Abschiedskuss, eine Verabredung für den Nachmittag. Als sich vier Stunden später wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet, was passiert, schaltet Navarrete hastig den Fernseher ein. Dort sieht sie es: Der Bolívar-Platz, um den sich Kongress, Präsidenten- und Justizpalast gruppieren, ist voller Polizisten und Soldaten, Maschinengewehre im Anschlag. Schüsse fallen, Schreie sind zu hören, und schließlich rammen Panzer die schmale Eingangstür des Palasts. Die Schlacht um den Ort, an dem in Kolumbien über Recht und Unrecht entschieden wird, ist ein Inferno für Richter und Zivilisten, die als Geiseln genommen werden. Sie dauert 28 Stunden und lässt den Palast in Trümmern und Flammen zurück.

Navarrete schlief nicht in diesen Tagen, sie suchte. In den Krankenhäusern, im Leichenschauhaus, auf dem Bolívar-Platz, wo am Tag darauf Chaos herrschte, Berge qualmender Toter lagen, zu Asche zerschossene Körper auf Tüchern aus dem Palast getragen und Knochen wahllos in Plastiktüten gepackt wurden. Beltran und mit ihm acht weitere Angestellte der Cafeteria waren nicht zu finden. Nirgends.

Eine Woche später werden die Guerilleros, die im Palast starben, in einem Massengrab auf dem Südfriedhof der Stadt verscharrt. „Hören Sie auf zu suchen“, hört Navarrete von Polizei und Armee, „er ist tot.“ Die Suche sei vergebens, liest sie in den Zeitungen, er sei tot. Nachbarn halten sie für verrückt, Menschen im Viertel meiden sie, weil die offizielle Darstellung und der Druck der öffentlichen Meinung keine andere Lesart zulassen, als dass die Cafeteria-Angestellten zur Guerilla gehörten.

Wochen nach dem Brand des Justizpalasts melden sich Zeugen, die gesehen haben, wie Angestellte der Cafeteria von Militärs aus dem Palast geführt werden. Videos tauchen auf, auf denen Pilar Navarrete das mit eigenen Augen sehen kann. Ein Soldat berichtet anonym, Beltran und die anderen in einer Kaserne gesehen zu haben: verhungernd, verdurstend, verdreckt, verprügelt. Zu einem Prozess führen die Beweise nicht. Ein Gesetz, das Verschwindenlassen als Straftat anerkennt, gibt es in jenen Jahren nicht. Es gilt: ohne Leiche kein Prozess.

Viele der betroffenen Familien sind nach dieser wiederholten Entrechtung mit ihrer Kraft am Ende und geben auf. Aber einige halten sich aufrecht. Pinar Navarrete und Mitglieder von Opfer-Organisationen wie „Asfaddes“ ließen sich bis heute nicht entmutigen.

Sie wollen die Anerkennung ihres Leids, sie wollen Strafen für die Täter – und sie wollen ihre Toten. Sie gehen auf die Straße, immer wieder, organisieren Kampagnen und Seminare, nehmen Kontakt zu Anwälten auf, sammeln Fälle, verteilen Flugblätter. Auch, als sie Morddrohungen erhalten. Auch, als einige von ihnen selbst wieder verschwinden. Und auch dann noch, als Navarretes Anwalt von Paramilitärs getötet wurde. Für Pilar Navarrete und für hunderte Mütter, Schwestern und Ehefrauen, deren Familien zerstört wurden, ist der Kampf um Aufklärung oft die einzige Möglichkeit, weiterzuleben.

Warum es 1991 einen kleinen Hoffnungsschimmer gab, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

1991 gab es einen kleinen Hoffnungsschimmer: Eine neue kolumbianische Verfassung wurde verabschiedet, die verbietet, Menschen verschwinden zu lassen. Im Jahr 2000 wird ein Gesetz erlassen, mit dem die Fälle auch vor Gericht gebracht werden können. Schließlich verpflichtet sich der kolumbianische Staat auf internationalen Druck hin, Maßnahmen zu ergreifen, um Verschwundene zu finden und deren Familien vor weiteren Angriffen zu schützen. „Es gibt heute einen rechtlichen Rahmen“, sagt „Asfaddes“-Chefin Gloria Gómez. „Aber der wird in den seltensten Fälle angewandt.“ Weil die Familien nicht anzeigen, weil Nachforschungen und Ausgrabungen in einem unwegsamen Land im bewaffneten Konflikt schwierig sind. „Und weil dem Staat der Wille fehlt“, sagt Gómez, „zu suchen.“

Nach der Jahrtausendwende verfolgt die rechtskonservative Regierung eine rigorose Politik der Terrorbekämpfung in Kolumbien. Während die Guerilla mit militärischen Mitteln zurückgedrängt wird, wird mit den außer Kontrolle geratene Parallelgesellschaft der Paramilitärs verhandelt, um sie wieder zu integrieren.

2005 werden offiziell rund 33 000 Paramilitärs entwaffnet. Sie sollen ihre Taten gestehen, im Gegenzug werden ihnen Straferleichterungen in Aussicht gestellt. Durch Geständige, die von jeweils tausenden schwerster Taten wie Massakern und Massenmorden berichten, wird auch deutlich, dass es weit mehr Fälle von Verschwundenen gibt, als bis dahin offiziell angenommen wurden. Gräber können nach den Beschreibungen gefunden und geöffnet werden, rund 1000 Überreste von Verschwundenen sind im Zuge der Prozesse bislang an Angehörige übergeben worden.

Für Menschenrechtler sind die Prozesse dennoch eine Farce. Die Höchststrafe für geständige Paramilitärs beträgt acht Jahre – für die Opfer eine oft schwer zu ertragende Tatsache. Die ehemaligen Kommandanten wurden außerdem oft nicht wegen Menschenrechtsverbrechen in Kolumbien angeklagt, sondern wegen Drogengeschäften – in die sie ebenfalls verwickelt waren – an die USA ausgeliefert, bevor sie ihre Hintermänner und Finanziers bis in höchste Regierungsebenen hinein nennen konnten. Die Machtstrukturen der Gruppen bestehen weiter. „Auch heute noch verschwinden in Kolumbien Menschen“, sagt Gloria Gómez. „Jeden Tag.“

Vor drei Jahren wurde erneut deutlich, wie tief offizielle Stellen noch immer in die Verbrechen verstrickt sind: 17 Jugendliche aus einem Vorort von Bogotá verschwanden und tauchten hunderte Kilometer weiter nördlich wieder auf – ermordet und von der Armee präsentiert als tote Guerilleros und Erfolg militärischer Arbeit. Menschenrechtsorganisationen gehen von mehr als 2000 ähnlicher Fälle aus, mit denen die Bilanzen der Armee geschönt werden sollten.

Mitten hinein in das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen, eröffnete ein Staatsanwalt nach immer erdrückenderen Beweisen, 2008 das Verfahren gegen zwei Militärs des Palasts. Navarrete trat als Klägerin auf. 23 Jahre, nachdem ihr Mann verschwand.

„Ich wollte seine Knochen“, sagt sie unter dem Foto Jaime Beltrans sitzend. „Ich wollte von ihnen hören, wo er ist.“

Monatelang wurden Beweise gesichtet und Zeugen verhört, Richter, Familien, Militärs. Dann fielen zwei Urteile: Im Sommer 2010 wurde Oberst Alfonso Plazas Vega wegen Folter und Verschwindenlassens der Mitarbeiter der Cafeteria zu 30 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, und erst vor wenigen Wochen erging das Schlusswort gegen General Jesús Armando Arias Cabrales: Er wurde zu einer Haftstrafe von 35 Jahren verurteilt. Es waren historische Richtersprüche.

„Wenn wir nicht jeden Tag aufgestanden und laut gewesen wären“, sagt Pilar Navarrete, „wäre es nicht dazu gekommen.“ Und damit hat sie sicher recht.

Seit 1985 führt sie zwei Leben. Eines, in dem sie Mutter ist und bald auch Großmutter wird, sich um den Familienunterhalt kümmert, wieder geheiratet hat, weiterlebt. Und eines, in dem sie sucht: „Meinen Mann“, wie sie noch immer zu Jaime Beltran sagt. Auch im Prozess wurde nicht geklärt, was mit Jaime Beltran nach der Verschleppung geschah. „Das Urteil ist ein kleines Stück Gerechtigkeit“, sagt Pilar Navarrete. Die Antwort auf ihre Fragen, ein Ende ihrer Suche ist es nicht.

Zur Startseite