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Anhaltender Protest. Ein Demonstrant mit einem Plakat fordert in Moskau die Freilassung von politischen Gefangenen.

© Yuri Kadobnov/AFP

Kommunalwahlen in Russland: Der Mut der Unzufriedenen

Wochenlang demonstrierte Russlands Opposition für faire Kommunalwahlen. Nach der Abstimmung am Sonntag sollen die Proteste weitergehen.

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Der Sommer 2019 wird vielen Moskauern in Erinnerung bleiben. Einerseits, weil er lange verregnet und kalt war. Andererseits, weil die Opposition zur gleichen Zeit für heiße Wochen sorgte. Im Juli und August gingen Unzufriedene beinahe jedes Wochenende auf die Straße. Ihren Höhepunkt erreichte die Protestbewegung Anfang August, als fast 50 000 Menschen zusammenkamen. Bei zwei nicht genehmigten Kundgebungen nahm die Polizei fast 2500 Menschen fest und ging teils gewaltsam gegen die Demonstranten vor.

Zunächst trieb das Verlangen nach fairen und freien Wahlen die Menschen auf die Straße. Schnell zeigte sich jedoch, dass es ihnen um sehr viel mehr geht, als um die Zusammensetzung der Stadtduma, über die nun an diesem Sonntag abgestimmt wird. Die Unzufriedenen werden deshalb nicht mit dem Wahltag verschwinden. Im Gegenteil, die Menschen haben neuen Mut gefasst. Was treibt sie an?

Für die meisten Demonstranten habe es eine Reihe von Gründen gegeben, erklärt Alexander Below, ein 30-Jähriger, der in der Werbebranche tätig ist. Das Verbot unabhängiger Kandidaten sei nur einer davon. Er selbst sei gar nicht so unzufrieden mit der Stadtpolitik unter Oberbürgermeister Sergej Sobjanin. Below beklagt stattdessen die Ungerechtigkeit, die der Ausschluss der Opposition von der Wahl bedeute. Auch stört ihn die Korruption, etwa bei Bauvorhaben der Stadt.

Für Marina Jurtschenko, Mitarbeiterin einer Fernsehproduktion, kamen eine Reihe von Gründen zusammen, weswegen sie auf die Straße ging: „Das Ausmaß an Lügen, Verstöße gegen Verfassungsrechte, die Armut von Bürgern und die Verletzung moralischer Standards“, hätten ihr keine Ruhe gelassen, sagt die 38-Jährige. Im Vergleich zu den Protesten vorheriger Jahre habe sie bemerkt, dass die Teilnehmer jünger und selbstbewusster geworden seien. „Dies deutet darauf hin, dass eine neue Generation aktiv ist, die nicht von den Erfahrungen der Sowjetvergangenheit beeinflusst wurde.“ Das Land befinde sich auf dem „Weg der Veränderung“. Diese kämen jedoch nur langsam.

„Die Regierung unterschätzt die Natur der Krise eindeutig“, lautet die Einschätzung der Politologin Tatjana Stanowaja. Die offizielle Sichtweise des Kremls laute weiter wie bisher: Putin genießt die breite Unterstützung in der Bevölkerung, eine „verantwortungsbewusste“ Opposition ist im Parlament vertreten. Eine andere Opposition gebe es nicht, die Demonstranten seien lediglich ein „Haufen von Schlägern“, schrieb sie vor Kurzem in einer Analyse für den Moskauer Think Tank Carnegie Center. „Niemand sagt dem Präsidenten, dass sich die Situation seit seinem triumphalen Wahlsieg im Frühjahr 2018 drastisch geändert hat und dass das Land in eine neue Phase eingetreten ist.“

Die Staatsmacht reagiert mit Strafen und Einschüchterungen

Die Staatsmacht reagiert nach alten Mustern: mit drakonischen Strafen und massiven Einschüchterungen. Im Eilverfahren verurteilten die Moskauer Gerichte in den letzten Tagen zahlreiche Demonstranten. So wurde der 30-jährige Wladislaw Siniza wegen eines Tweets zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Er soll im Netz zum Mord an den Kindern von Angehörigen der Sicherheitsorgane aufgerufen haben.

Der Tweet stamme gar nicht von ihm, erklärte Siniza. Doch beweisen konnte er seine Aussage nicht. Zwei Jahre in Haft muss der 25-jährige Danil Beglez, weil er einen Polizisten festgehalten und mit der Hand auf den Helm geschlagen hatte. Für Konstantin Kotow wurde ein Strafrechtsparagraf hervorgeholt, der seit Jahren nicht mehr angewandt worden war. Weil er wiederholt an nicht genehmigten Kundgebungen teilgenommen hatte, erhielt er vier Jahre Lagerhaft. Zur gleichen Zeit wurden Angehörige der Sicherheitskräfte freigesprochen, die beschuldigt worden waren, Demonstranten geschlagen zu haben.

Besondere Aufmerksamkeit bekam der Fall eines Ehepaares, das vom Moskauer Jugendamt vor Gericht gezerrt worden war. Die Behörde versuchte, den jungen Leuten das Sorgerecht für ihr Kind entziehen zu lassen, weil sie es zu den Protestdemonstrationen mitgenommen hatten. Die Richter beließen es bei einer Verwarnung – ein Signal, dass sich nicht nur an die Betroffenen richtete. Zu den alten Mustern gehört auch, die Finanzbehörden gegen die Opposition in Marsch zu setzen. Seit Anfang August sind die Konten der Anti-Korruptionsstiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny eingefroren. Die Justiz ermittelt wegen des Vorwurfs der Geldwäsche gegen die Organisation. Die Polizei durchsuchte auch Wohnungen von Nawalny-Vertrauten.

Ungeachtet dessen haben Oppositionelle für das Wochenende nach der Kommunalwahl zu einem weiteren Protestmarsch aufgerufen.

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