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Konflikt: Neue Eskalation in türkischer Kurdenpolitik

Die Kurden sagen, es gehe um Leben und Tod. Die türkische Regierung sagt, es gehe um genau 17 Quadratzentimeter, die Fläche einer Streichholzschachtel. Was sich derzeit in der türkischen Kurdenpolitik abspielt, wirkt auf den ersten Blick wie absurdes Theater. Doch es ist blutiger Ernst.

Nach Monaten der Hoffnung auf eine friedliche Lösung der Kurdenfrage steuert das Land auf eine neue Eskalation zu. Und beide Seiten tragen Schuld daran.

Erst vor wenigen Wochen war der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali bei Istanbul in ein neu errichtetes Gefängnisgebäude umgezogen. Gleichzeitig erhielt Öcalan nach fast elf Jahren Einzelhaft einige Mithäftlinge auf der Insel. Mit der Reform folgte Ankara Forderungen des Europarats. Auch sollten damit die Bemühungen der türkischen Regierung um eine friedliche Lösung der Kurdenfrage flankiert werden.

Von diesem Optimismus ist nicht viel übrig. Öcalan mag den neuen Zellentrakt nicht. In Gesprächen mit seinen Anwälten klagte er über Gesundheitsbeschwerden und darüber, dass seine neue Zelle lediglich 6,5 Quadratmeter groß sei, viel kleiner als die alte. Frische Lufte gebe es auch kaum. Er fühle sich "wie am Grund eines Brunnens", sagte Öcalan.

Die Beschwerden des PKK-Chefs lösten in den vergangenen Tagen gewalttätige Proteste von Kurden in mehreren Landesteilen aus. Ahmet Türk, der Chef der legalen Kurdenpartei DTP, warnte die türkischen Behörden, der Gesundheitszustand von Öcalan sei für die Kurden von höchster Bedeutung. Justizminister Sadullah Ergin konterte, Öcalans neue Zelle messe genau 11,81 Quadratmeter und sei damit ganze 17 Quadratzentimeter kleiner als die vorherige. Zur Untermauerung ließ Ankara Fotos der neuen Zelle veröffentlichen.

Der PKK-Chef stößt sich aber nicht nur an seinen neuen Haftbedingungen. Von Imrali aus geißelt er die Reformankündigungen, mit denen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den Kurdenkonflikt beilegen will. Erdogan will den Kurden vor allem mehr Sprachfreiheit zugestehen, zögert angesichts des wütenden Widerstands der Nationalisten bisher aber mit konkreten Gesetzgebungsvorhaben. Im Kurdengebiet, wo nach 25 Jahren Krieg und 40.000 Toten in den vergangenen Monaten neue Hoffnung aufgekeimt war, macht sich Frust wegen der unerfüllten Erwartungen an das Regierungsprogramm breit.

Öcalan und die PKK fordern die Verankerung der kurdischen Identität in der türkischen Verfassung; sogar die Aufstellung einer lokalen Kurden-Polizei verlangte der PKK-Chef. Öcalan ist auch nicht mehr bereit, die Regierung bei deren Initiative zu unterstützen. Die friedliche Rückkehr weiterer Kurden aus dem nordirakischen Exil in die Türkei könne sich Ankara abschminken, sagte er. Offenbar will Öcalan die türkischen Behörden zwingen, ihn als Verhandlungspartner zu akzeptieren.

Ahmet Türks DTP hatte Erdogans Reformankündigungen ursprünglich begrüßt, ist inzwischen jedoch auf Öcalans harte Linie eingeschwenkt. Die DTP fordet den türkischen Staat nun auf, den PKK-Chef als Repräsentanten der Kurden anzuerkennen, was von Ankara strikt abgelehnt wird. Kritiker werfen der 2007 ins Parlament gewählten Kurdenpartei vor, sich mit dieser Haltung als politischer Akteur selbst aus dem Spiel zu nehmen. Das widerspreche der demokratischen Verantwortung der Partei, schrieb der Kolumnist Okay Gönensin am Freitag in der Zeitung "Vatan".

Möglicherweise sei die DTP intern von PKK-nahen Kräften auf den Öcalan-Kurs gezwungen worden, spekulieren Gönensin und andere Beobachter. Was immer die Gründe sein mögen: Die Partei dürfte mit dem Richtungsschwenk ihr Schicksal besiegelt haben. Am Dienstag beginnt vor dem Verfassungsgericht in Ankara das Hauptverfahren im seit zwei Jahren anhängigen Verbotsprozess gegen die DTP. Nach Presseberichten hat sich der Berichterstatter des Gerichts für ein Verbot ausgesprochen, weil die DTP als verlängerter Arm der terroristischen PKK zu betrachten sei.

Ein baldiges Verbot der DTP ist damit sehr wahrscheinlich. Wie schon bei anderen Parteiverboten in der Vergangenheit werden sich die türkischen Kurden zwar auch diesmal wieder in einer neuen Partei sammeln. Dennoch wird ein erneutes Parteiverbot in der Türkei im westlichen Ausland als Rückschlag der Demokratisierung des Landes gewertet werden. Im Inland dürfte sich das politische Klima weiter verschärfen. Die Erfolgsaussichten von Erdogans Kurden-Initiative sinken mit jedem Tag.

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