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Politik: Kopfrechnen in Genshagen

Von Antje Sirleschtov

So viel man von Geheimrat Carl Ferdinand Schulz weiß, hat er vor 130 Jahren in Brandenburg ein vergleichsweise bescheidenes Domizil erbaut. 21 Zimmer, ein 200 Quadratmeter großer Bankettsaal – das ehemalige Herrenhaus in Genshagen, südlich von Berlin, steht in keinem Verhältnis zu den prunkvollen und weitläufigen Anlagen des Schlosses Neuhardenberg, wohin Gerhard Schröder seine Kabinettsmitglieder einst zum Nachdenken über Politik einlud. Und es passt damit wohl auch gut in die neuen Proportionen von Politik, von denen die Kanzlerin jüngst gesprochen hat. Kleine Schritte sollen es sein, die die schwarz-rote Regierungsmannschaft heute und morgen in Genshagen konkret beschreiben will. Kleine Schritte, von denen sich Angela Merkels große Koalition allerdings viel Wirkung verspricht.

Wie klein der politische Entwurf in Genshagen sein wird, ob er vielleicht am Ende sogar zu klein gerät, um als schwarz-rotes Signal zur Lösung der drängenden Probleme des Landes zu taugen, wird sich erst später im Jahr zeigen – dann, wenn uns, wie in jedem der vergangenen Jahre auch, die gnadenlosen Gesetze der Mathematik wieder einholen. Wenn die Krankenkassen feststellen, ob das Geld reicht oder dass sie noch immer viel mehr ausgeben, als sie einnehmen. Wenn klar wird, ob der Aufschwung die erhofften Steuermehreinnahmen in die öffentlichen Kassen spült. Und wenn die Kosten der Arbeitslosigkeit bilanziert werden. Dann weiß man, ob von Genshagen ein Signal der Erneuerung oder doch eher die Botschaft „Weiter so“ ausging.

Zuerst einmal sollte sich niemand Illusionen machen über den konjunkturellen Effekt des 25-Milliarden-Euro-Programmes, mit dem die Regierung jetzt Kinderbetreuung und Handwerksleistungen steuerlich fördern, Bau- und Forschungsinvestitionen ankurbeln will. Auch, wenn manche Mutter die Kosten des Kindermädchens damit senken, einen Job annehmen und am Ende des Jahres netto mehr verdienen kann, als sie für Kinderbetreuung ausgegeben hat. Das Konjunkturprogramm wird alles in allem das auslösen, was vorangegangene namensgleiche Programme auch taten: Strohfeuerchen, die in erster Linie das Gewissen von Politikern beruhigen. In diesem Fall von Politikern, die ihren Bürgern am Ende des Jahres kräftig ins Portemonnaie greifen wollen.

All jene, die gelernt haben, Eins und Eins in der Politik zusammenzurechnen, werden sich deshalb von den Aufschwung-unterstützenden Werbebotschaften aus Genshagen nicht beeindrucken lassen. Denn es ist an der Zeit, sich mal wieder an den letzten Finanzminister, an Hans Eichel, zu erinnern. 40, ja vielleicht sogar 45 Milliarden Euro Schulden hinterließ der dem Bund für dieses Jahr. Und damit seinem Nachfolger, Peer Steinbrück, die unvorstellbare Aufgabe, die Größe dieses Lochs binnen 12 Monaten zu halbieren – mindestens. Denn spätestens 2007 muss Deutschland die Stabilitätskriterien der EU, und was weit schwerer ist, auch die Regeln des Grundgesetzes wieder einhalten. Sonst drohen uns Milliardenstrafen aus Brüssel und langfristig noch mehr teure Zinsen für Staatskredite.

Das gilt auch, wenn Steinbrück glaubt, wegen der geplanten Anhebung der Mehrwertsteuer und vorgesehener Privatisierungen schon ein Gutteil seines Sparziels für 2007 sicher zu haben. Was vor ihm und seinen Kabinettskollegen liegt, ist noch immer gewaltig in der finanziellen Dimension und für die Koalition voller Sprengkraft. Allein 2,7 Milliarden Euro weniger sollen die Krankenkassen nächstes Jahr vom Bund erhalten. Wenn sich Union und Sozialdemokraten in den nächsten Monaten nicht auf eine wirksame Gesundheitsreform einigen, ist das unmöglich zu erreichen. Dazu kommen umstrittene Milliardenkürzungen im öffentlichen Dienst, bei den Jobcentern, beim Nahverkehr, in der Landwirtschaft, Steueranhebungen bei Versicherungen und Biokraftstoffen. Tausend kleine, aber schwere Schritte durch politisch unwegsames Gelände sind das. Die Reise nach Genshagen ist nur einer davon.

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