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Korrupte Ärzte: Das beste Rezept

Die Bundesregierung prüft, ob schärfere Gesetze gegen Korruption bei Kassenärzten nötig sind. Der Berliner Arzt Claudius Böck setzt sich mit seinen Kollegen bereits gegen die Beeinflussungsversuche der Pharmaindustrie zur Wehr. Sie sind Mitglieder der „Unbestechlichen Ärzte“.

Noch bevor er seine erste Praxis überhaupt fertig eingerichtet hatte, war die Korruption schon bei ihm eingezogen. In Pforzheim war das, und er war ein junger Arzt.

Die Korruption zog ein in Form einer Kaffeemaschine, die ein Pharmareferent ihm vorbeibrachte. Mit besten Wünschen für den Start. Nett, habe er das gefunden, erinnert sich der Beschenkte, und sich nichts dabei gedacht.

Auch die Abrechnungssoftware für die Praxiscomputer, die ihm ein Pharmahersteller zur Verfügung stellte, war zunächst vor allem praktisch. Erst mit dem dritten oder vierten Update sei es losgegangen, dass auf dem Bildschirm Werbebotschaften aufploppten, nachdem er seine Patientendiagnosen verschlüsselt eingegeben hatte. Es waren Werbebotschaften, die Medikamente für die soeben notierte Diagnose als hilfreich anpriesen – und zwar von der Pharmafirma, die die Software überlassen hatte. Das empfand er dann schon als störend. Als manipulierend. Oder korrumpierend?

„Ach Korruption, was heißt schon Korruption!“, sagt Claudius Böck heute und lehnt sich zurück in seinem ergonomisch hochwertigen Bürostuhl. Was ist Korruption, was noch ein unmoralisches Angebot, was bloße Werbung? Kann man da nach Jahrzehnten fortschreitender Interessenverfilzung im Gesundheitswesen überhaupt noch unterscheiden? Fragt Böck und beantwortet das in Teilen gleich selbst. „Es ist längst Usus, was wir jetzt beklagen“, sagt er.

Seit Jahresbeginn wird nach einem Vorstoß der Krankenkassen wieder über Ärztebestechung diskutiert. Der Bundesgesundheitsminister will schärfere Regelungen prüfen, die Bundesjustizministerin ist bereits dafür, schon wird nach Haftstrafen gerufen, vom gestrigen Montag datiert die Nachricht, dass ein Gesetzentwurf vorliege, der es Kassenärztlichen Vereinigungen ermögliche, unzulässiges Verhalten an die Behörden und Ärztekammern zu melden, der Ärztekammerpräsident fordert ein Ermittlungsrecht für die Ärzte selbst, spricht aber auch von Einzelfällen, und die Pharmaindustrie will einen Transparenzkodex einführen, nach dem ab dem Jahr 2016 veröffentlicht wird, welches Geld an welchen Mediziner fließt und wofür.

Claudius Böck betrifft das nicht mehr, er ist erklärterweise raus aus der damit gemeinten Beeinflussungsindustrie. Böck ist inzwischen 53 Jahre alt, ein bulliger, schnell sprechender Bayer. Aus Pforzheim ist er 2006 weggegangen, war dann drei Jahre als Chefarzt in einer Rehaklinik auf Usedom und hat sich Anfang 2009 mit einer neuen schmerztherapeutischen Privatpraxis in Berlin-Mitte, Friedrichstraße, niedergelassen. In seinem Wartezimmer hält auf einem Tischchen ein Plexiglashalter drei Flyer bereit. Der größte von denen überrascht die hier Sitzenden mit der Nachricht: „Bei uns bekommen Sie keine Rezepte der Pharmaindustrie.“ Und weiter hinten: „Sie denken sich vielleicht: Das ist doch wohl die selbstverständlichste Sache der Welt! Leider sieht die Realität anders aus.“

Die Initiative kürzt sich Mezis ab, für: Mein Essen zahl’ ich selbst

„Ja was? Ja wie?“, würden seine Patienten oft fragen und direkt mit dem Flyer in der Hand ins Behandlungszimmer kommen, sagt Böck.

Der Flyer ist ein Vordruck der „Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte“, die 2006 gegründet wurde und sich Mezis abkürzt, für: Mein Essen zahl’ ich selbst. Rund 450 Ärztenamen finden sich im Mezis-Verzeichnis. Der von Böck gehört seit anderthalb Jahren dazu, auch wenn er mit dem Bild vom selbst bezahlten Essen etwas unglücklich ist, zu plakativ. Aber das Anliegen hält er für wichtig und richtig. Deshalb hat er seine Anmeldung ausgefüllt und eine Verpflichtungserklärung: Er empfängt keine Pharmavertreter mehr, nimmt keine Geschenke und keine Arzneimuster mehr an. Er setzt keine Computerprogramme ein, die von Arzneimittelherstellern finanziert werden. Er führt keine Anwendungsbeobachtungen im Auftrag der Pharmaindustrie mehr durch. Er bildet sich durch herstellerunabhängige Veranstaltungen und Fachzeitschriften weiter und meidet die Teilnahme an Veranstaltungen, deren Finanzierung nicht offengelegt wird.

Diese ganzen Neins zeigen Werbemethoden auf, die im Gesundheitssystem umso schlimmer sind, als es letztlich um kranke, schmerzgeplagte, verängstigte Menschen kreist und deren Vertrauensverhältnis zu den sie behandelnden Ärzten zumindest mit einem Zweifel behaftet: An wen denkt mein Arzt wirklich, wenn er den Rezeptblock zückt?

Ob Bestechung und Bestechlichkeit niedergelassener Kassenärzte – wie die angestellter Ärzte – durch Mitarbeiter von Pharmaunternehmen nach geltender Rechtslage strafbar sind, musste im vergangenen Jahr der Bundesgerichtshof entscheiden, und er kam zu dem Schluss: Nein, ist es nicht. Niedergelassene Ärzte gelten als Selbstständige und sind somit von Vorschriften für Amtsträger nicht betroffen. In der BGH-Mitteilung zu dem Beschluss vom 29. März 2012 heißt es aber auch: „Darüber zu befinden, ob die Korruption im Gesundheitswesen strafwürdig ist und durch Schaffung entsprechender Straftatbestände eine effektive strafrechtliche Ahndung ermöglicht werden soll, ist Aufgabe des Gesetzgebers.“ Dem das bisher also keine Beschäftigung wert war.

Stattdessen sieht es in der Realität so aus, dass die Lobbyisten der Pharmabranche als mächtigste des Landes bezeichnet werden. Kritische Beobachter beziffern den Werbeanteil an den Erlösen auf 30 bis 40 Prozent. Nach unterschiedlichen Angaben sind in Deutschland 15 000 oder 20 000 Pharmareferenten unterwegs, die Ärzten die neuesten Präparate ihres Auftraggebers andienen möchten. In den USA haben Untersuchungen ergeben, dass Pharmafirmen jährlich pro Arzt 10 000 Euro aufwenden, um dessen Verschreibungsverhalten zu beeinflussen.

Für Deutschland gibt es dazu nur wenig Zahlenmaterial. Es fehlt an Studien und Untersuchungen. Wer solle die auch finanzieren?, fragt Thomas Lindner, Vorstandsmitglied von Mezis und gerade erst aus dem Winterurlaub zurück in Hohen Neuendorf, Brandenburg. Er hat 1997 den Assistenzarztjob in einem Berliner Krankenhaus aufgegeben und sich als Internist und Nephrologe im Umland niedergelassen, wo ihm die Pharmareferenten alsbald „die Bude einrannten“, wie er am Telefon erzählt. Als erste Konsequenz habe er verfügt, nicht mehr als einen Pharmareferenten pro Tag reinzulassen. Als zweite trat er Mezis bei, gleich nach deren Gründung. Heute hält er Vorträge an Universitäten über die Einflussnahme der Pharmaindustrie, damit die jungen Mediziner das Problembewusstsein entwickelten, dass er unter älteren Kollegen für wenig ausgeprägt hält. Er sagt, wer sich einen neuen Kühlschrank kaufe, informiere sich zuvor bei Stiftung Warentest, Ärzte aber würden neue Medikamente nach Prospekten verschreiben.

Claudius Böck dagegen hat sich im Alter von den Methoden distanziert, für die er als junger Arzt auf naive und blauäugige Art empfänglich gewesen ist. Einmal habe man ihn zur Präsentation eines neuen Medikaments nach Lissabon geflogen, wo dann bekannte Wissenschaftler und Mediziner Vorträge hielten – da sei er sich als Gast sehr wichtig vorgekommen. Später habe er die Vermarktungsmechanismen besser erkannt. Aber die Pharmaindustrie sei ebenfalls reaktionsfähig. Statt plumper Geschenke gebe es heute beispielsweise Einladungen zu Beratungsgesprächen, bei denen die Konzernvertreter mit den Ärzten gemeinsam überlegen wollen, welche Entwicklungen nötig seien. Doch Böcks Erfahrungen waren andere. In solchen Beratungsgesprächen, erzählt er, würden die eingeladenen Ärzte in dem Gefühl gebadet, wegen ihrer Expertise gefragt zu sein, und stellten dann doch irgendwann fest, dass sie ausgefragt wurden, weil es in Wirklichkeit darum gegangen sei, Daten zu sammeln.

Dann erzählt er noch, wie sich die Vertreter konkurrierender Unternehmen beim Reklamelauf in seiner Praxis regelrecht abwechselten. Jeder mit Hochglanzabzügen und Studienausdrucken, die er leider nicht dalassen könne, weil das alles intern sei. Wie die Pharmafirmen sich gegenseitig unwahrer Werbebotschaften bezichtigten. Und immer wieder klingelt der Referent.

Ärzte glauben, dass nur 16 Prozent ihrer Kollegen nicht beeinflussbar sind

2004 dann, Böck war noch in Pforzheim, gründete sich aus dem Verband der forschenden Arzneimittelhersteller heraus der Verein Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie, FSA. Seitdem sei einiges besser geworden, ist Böcks Eindruck. Der Verein beschloss Regeln für den Umgang mit Ärzten, mit Mitarbeitern des Gesundheitswesens und mit Selbsthilfegruppen. In den Empfehlungen zum Umgang mit „Partnern im Gesundheitswesen und deren Mitarbeitern“ heißt es beispielsweise, dass Bewirtungen „einen sozialadäquaten Umfang nicht überschreiten“ sollten. Und dass Honorare „in einem angemessenen Verhältnis zu der zu erbringenden Tätigkeit stehen“ sollen. Und zu Tagungen: „Die Auswahl des Veranstaltungsortes und der Veranstaltungsstätte darf nicht auf ihrem Unterhaltungs- oder Freizeitwert beruhen.“ Verstöße gegen diese Regelungen kann der FSA-Verein sanktionieren. Nach eigenen Angaben hat er das seit 2004 knapp 150 Mal getan. Wie der Ärztekammerpräsident spricht auch die Pharmaindustrie von Einzelfällen und will aus dem FSA-Regelwerk kein Sittengemälde der Zeiten davor abgeleitet sehen.

Aber warum solche Regelungen überhaupt einer freiwilligen Selbstkontrolle überlassen. Warum greift die Politik nicht durch? Da lacht in seiner Berliner Schmerzpraxis Claudius Böck laut und zitiert den CSU-Politiker Horst Seehofer, der neben viel Unsinn in seiner Zeit als Bundesgesundheitsminister mal den wahren Satz gesagt habe, dass man gegen die Pharmalobby keine Gesundheitspolitik machen könne. Warum nicht, ist bis heute nicht ganz erleuchtet.

Fest steht aber, dass das deutsche Gesundheitssystem mit seinen föderalen Verästelungen – 23 Kassenärztliche Vereinigungen plus 21 Kassenzahnärztliche Vereinigungen plus deren Bundesorganisationen plus die Landesapothekerverbände plus Bundesverband plus 16 Landesgesundheitsministerien plus Krankenhauskonzerne und 140 000 niedergelassene Ärzte – schwer durchschaubar und reformresistent ist, was auch Transparency International schon feststellte, und dass es viel Angriffsfläche für Lobbyisten bietet. Im Ergebnis wird in Deutschland pro Jahr fast so viel Geld für Medikamente ausgegeben, wie alle niedergelassenen Ärzte gemeinsam verdienen, und ist das deutsche Gesundheitssystem eines der weltteuersten, erbringt aber im internationalen Vergleich nur durchschnittliche Qualität. Laut einem Herausgeber der von der Pharmaindustrie unabhängigen Zeitschrift „Arzneimittel-Telegramm“ waren von den 553 neuen Präparaten, die seit Mitte der 80er Jahre herauskamen, lediglich acht wirklich innovativ. Den anderen 545 Präparaten fehlte demnach ein echter Zusatznutzen. Aber auch – oder vor allem? – für die wurde die Vermarktungsmaschine angeworfen.

Claudius Böck hatte also irgendwann genug von Pharmareferenten und ihren Ärztemustern, Kugelschreibern, Notizblöcken, Postern, Brillenputztüchern, Schweizer Messern, Regenschirmen und weist denen seither die Tür. Andere tun das nicht. Böck sagt, in jeder Facharztsparte würden die Kollegen untereinander diejenigen kennen, die. . . mmmhh. . . Er sucht nach den richtigen Worten und entscheidet sich dann für: „sich unkritisch für jedes Präparat einspannen lassen“.

Andererseits, er dreht sich auf seinem Stuhl und rupft eine Ausgabe des Ärzteblatts unter dem Tisch hervor. Das Standesorgan! Und hinten drauf? Er wirft das Heft verkehrt herum auf den Tisch. Pharmawerbung. Na bitte.

In einem Mezis-Artikel werden Umfrageergebnisse zitiert, nach denen 61 Prozent der Mediziner von sich selbst glauben, dass sie in ihrem Verordnungsverhalten „überhaupt nicht“ durch Pharma-Geschenke beeinflusst werden. Ihre Kollegen schätzen sich nicht so widerstandsfähig ein. Von denen glauben sie, dass nur 16 Prozent überhaupt nicht beeinflussbar seien. Und wenn die Wahrheit in der Mitte läge – wäre es nicht schlimm genug?

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