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Krankenkassen: Sozialfall Gesundheit

Lob der Solidargemeinschaft: Das Bundesverfassungsgericht bestätigt Ulla Schmidts Reformen von 2007.

Karlsruhe/Berlin - Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) feierte am Mittwoch einen großen Sieg, die privaten Krankenversicherer immerhin einen kleinen. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat Kernstücke der Gesundheitsreform von 2007 bestätigt, allen voran den umstrittenen Basistarif, der die Privaten zwingt, auch Ältere oder Kranke bei sich aufzunehmen und die Kosten für ärztliche Standardleistungen zu decken. Die klagenden Privaten schluckten tapfer ihre Niederlage und interpretierten sie auf ihre Weise: Das Urteil sei eine verfassungsrechtliche Absage an die Pläne Schmidts, dereinst eine Bürgerversicherung einzuführen. Die Verfassungsrichter hätten das zweigliedrige System mit ihrem Spruch geheiligt.

Für diese Ansicht mag es mit viel gutem Willen Argumente geben, doch zunächst marschieren die acht Richter unter Vorsitz des Gerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier in eine andere Richtung. Sie stellen eine sonst wenig beachtete Grundnorm an den Anfang ihrer Überlegungen: „Für das Ziel, allen Bürgern Deutschlands einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz in der gesetzlichen oder in der privaten Krankenversicherung zu sichern, kann sich der Gesetzgeber auf das Sozialstaatsgebot im Artikel 20 des Grundgesetzes berufen. Der Schutz der Bevölkerung vor dem Risiko der Erkrankung ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Kernaufgabe des Staates.“

Hehre Worte, mit denen die Richter ein besonders lästiges Übel für die Privaten rechtfertigen, den Basistarif. Er wird nach den teuersten Durchschnittssätzen der gesetzlichen Kassen berechnet und kostet rund 570 Euro monatlich. Wer ihn haben will und nicht den Gesetzlichen zuzuordnen ist, der darf. „Kontrahierungszwang“, heißt das in der Diktion der Juristen, ein Zwang zum Vertragsabschluss, ähnlich einer Beförderung im öffentlichen Nahverkehr. Die Empörung der Privaten darüber ist verständlich; schließlich ist es gerade ihre Freiheit, sich die Versicherten auszuwählen, die ihnen Wettbewerbsvorteile erschließt und ihre Wirtschaftlichkeit sichert. In der Praxis spielt der Basistarif indes eine geringe Rolle. Zu teuer, sagen die Experten. Sollte das Zwangsmodell einmal mehr Erfolg haben, müssten die übrigen Versicherten des Unternehmens es notgedrungen quersubventionieren. Vom System der Kapitaldeckung zur Solidargemeinschaft bei den Privaten ist es damit zwar noch weit, aber ein Schritt ist getan – insofern bestätigt das Urteil einen Paradigmenwechsel. Nur bedrohe er die Unternehmen nicht existenziell, sagen die Richter, ihre Berufsfreiheit bleibe unverletzt.

Auch die Erlaubnis der Mitnahme von Altersrückstellungen beim Versicherungswechsel wurde in Karlsruhe gebilligt. „Legitime Gemeinwohlinteressen“ zugunsten freien Wettbewerbs, erkennt das Gericht, konnten sich die Unternehmen doch früher darauf verlassen, dass älteren Versicherten der Wechsel regelmäßig zu teuer kam. Seit 2007 fällt er leichter. Wandern die Gesunden ab, könne dies ein Unternehmen in die Insolvenz führen, warnen die Richter. Dennoch verbleibe durch die Kalkulation ein Teil der Rückstellungen beim bisherigen Versicherer; insgesamt werde der Wettbewerb „verträglich gefördert“.

Schließlich haben die Richter auch keine Einwände, dass Arbeitnehmer, deren Verdienst oberhalb der Versicherungspflichtgrenze von 48 600 Euro brutto jährlich liegt, drei Jahre bei den Kassen bleiben müssen, ehe sie in die günstigen Tarife der Privaten wechseln dürfen. So bleibe noch „an die Solidargemeinschaft gebunden“, wer zuvor von ihr profitiert habe, etwa in der Familienmitversicherung oder in der Ausbildung.

Dennoch geben die Richter den Privaten Tröstendes mit: All dies sei nicht abschließend, den Gesetzgeber treffe eine „Beobachtungspflicht“ – und er müsse reagieren, wenn den Firmen die „Auszehrung ihres Hauptgeschäfts“ drohe.

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