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Krawalle in England: London Falling

„Warum nur?“, fragt sich Trevor Reeves. Sein Geschäft ist in Flammen aufgegangen, und es ist nicht das einzige in der Hauptstadt. Seit zwei Tagen tobt und plündert ein Mob, und niemand weiß, ihn aufzuhalten.

Die Polster waren eine leichte Beute. Schnell hatten sich die Flammen über die Sofaecken und Sitzgarnituren hergemacht, die Teppiche erreicht, und dann stand auch bald das ganze „House of Reeves“ in Flammen. Ein Möbelhaus, das sich in einem Eckgebäude in Croydon, Südlondon, befunden hatte, von dem aber nach der Nacht auf Dienstag nichts übrig bleiben sollte als das bloße Gerippe.

„Warum nur?“, fragt Trevor Reeves, der Eigentümer. „In einer Nacht endete alles, was fünf Generationen aufgebaut haben.“

1867 war das Möbelhaus gegründet worden, sogar den „Blitz“ der deutschen Luftwaffe hatte es überstanden. Aber die Aufstände der eigenen Jugend, die Ende vergangener Woche im Londoner Stadtteil Tottenham losgegangen waren und sich seither wie eine ansteckende Krankheit über die Hauptstadt selbst und im ganzen Land ausbreiten, die nicht mehr. „Irgendwas stimmt in unserer Gesellschaft nicht“, sagt Reeves und nimmt die Beistandswünsche entgegen, die ihm von überallher zugehen. „Wir danken allen für Ihre freundliche Unterstützung“, haben die Reeves’ inzwischen auch auf ihre Webseite geschrieben, die ansonsten nur vermerkt, dass der „Laden vorübergehend nicht erreichbar“ sei. Die ganze Welt konnte zugucken, wie sein „House of Reeves“ in Flammen aufging. Stundenlang war das grellgelb lodernde Gebäude am späten Montagabend im Fernsehsender BBC gezeigt worden. Als eins von mehreren dramatischen Hintergrundbildern für die Berichte der Journalisten und Experten. Immerhin, sagt Reeves noch, seien sie nicht geplündert worden, „weil man mit einer Polstergarnitur nur schlecht davonrennen kann.“ Sein Humor ist den Flammen also entkommen.

Am anderen Ende der Stadt, in Hackney, einem Stadtteil im Londoner East End, sieht es am späten Montagabend ähnlich aus. Auch dort müssen Ladenbesitzer zusehen, wie ihre Geschäfte niedergebrannt werden. „25 Jahre meines Lebens, alles weg“, sagt einer, der von der gegenüberliegenden Straßenseite, auf die er sich geflüchtet hat, beobachtet, wie sein „Spar“-Shop gerade geplündert wird. Junge Männer in Kapuzenpullis gehen ein und aus, stehlen Alkohol, Zigaretten oder was sich sonst zu Geld machen lässt. „Alles, was ich mir aufgebaut habe, ist dahin“, sagt der Ladenbesitzer, und er fragt: „Wo ist die Polizei?“

Doch die kam auch in dieser dritten umkämpften Nacht mit 6000 Beamten gegen die Randalierer nicht an. Oft konnten die selbst kaum mehr tun, als zuzusehen.

„Riots“, blindwütige Ausschreitungen, sind Landmarken in der britischen Geschichte: Von den „Gordon Riots“, als der Mob 1780 die Geschäfte und Kapellen katholischer Mitbürger abfackelte, bis zu den ethnisch motivierten Krawallen in den Thatcher-Jahren, als London, Bristol und Liverpool wochenlang unter den schweren Ausschreitungen litten. Neu ist allerdings die kriminelle Energie, mit der die meist jugendlichen Täter vorgehen. Und neu ist auch der flehende Appell des Londoner Polizeichefs an die vielen Schaulustigen, die wie in einem Freilufttheater die Gewalttaten beobachten. Als ginge sie das alles nichts an.

In Hackney ging es am Montag bereits am hellen Nachmittag los, und es dauerte Stunden, bis die Polizei die Aufständischen von der geplünderten Geschäftsgegend in die soziale Wohnsiedlung „Pembury Estate“ zurückdrängen konnte. Wegen der Altglascontainer fehlte es nicht an Wurfgeschossen. Viele Randalierer entwichen durch das Labyrinth der Korridore und Wege zu immer neuen Schauplätzen. Schnell da, schnell weg und mit den Örtlichkeiten bestens vertraut – bei diesem „Räuber und Gendarm“-Spiel war die Polizei immer der Verlierer. Und so ging es nicht nur in Hackney. Von Croydon im Süden bis Enfield im Norden und Ealing im Westen loderte London.

Und die brandstiftende Gewalt breitete sich auch weit entfernt von der britischen Hauptstadt in Birmingham, in Bristol, in Liverpool, in Nottingham und in Leeds aus. Und zumindest in London machen sich die Menschen darauf gefasst, dass die Nacht zu Dienstag nicht die letzte Krawallnacht war.

„Warum nur?“ Das fragt sich nicht nur Trevor Reeves. Das fragen sich viele. Und es ist vielleicht die Frage, die am schwierigsten zu beantworten ist.

Dass es Jugendliche sind, die da randalieren, das weiß man. Dass sie aus jenen Gegenden kommen, in denen die sozial Schwächeren und Schwachen leben, die weniger Gebildeten, die mit den geringeren, vielleicht gar keinen Chancen, das legt die Genese dieser Aufstände nahe, die in Tottenham begannen, nachdem dort am vergangenen Donnerstag während eines Polizeieinsatzes unter noch ungeklärten Umständen der 29-jährige Mark Duggan, Familienvater und mutmaßlicher Drogen- und Waffenhändler zu Tode gekommen war.

Lesen Sie auf Seite zwei, wie Ermittler versuchen, den Gewalttätern anhand von Videoaufnahmen auf die Spur zu kommen.

Tottenham ist einer der ärmsten Stadtteile Londons, in dem besonders viele junge Leute arbeitslos sind. Statt Jobs gibt es Banden, in denen die Jugendlichen eine Art Heimat finden und nicht selten eben auch ein Einkommen. Die Banden sind als kriminell berüchtigt, sie stehen für tödliche Messerstechereien und Straßenüberfälle. Die entsprechend verschärften Straßenkontrollen haben besonders bei nicht weißen Jugendlichen das Misstrauen gegen die Polizei erhöht.

Aber das erklärt keine Ausschreitungen, die inzwischen den ersten Toten gefordert haben, der mit Schusswunden in einem Pkw gefunden worden war. Das erklärt keine Zerstörungsorgie mit Schäden, die in die Millionen gehen.

Zumindest beginnt sich mittlerweile ein Muster abzuzeichnen. Die Jugendgangs bedienen sich sozialer Medien wie Twitter oder Facebook, um sich abzusprechen. Darüber hinaus benutzen sie den „BlackBerry Messenger“-Service, kurz BBM. Das ist ein SMS-Dienst, der das Versenden von verschlüsselten Nachrichten an Gruppen ermöglicht. Mithilfe von BBM verabreden sich sogar vormals untereinander verfeindete Jugendgangs, um gemeinsam zuzuschlagen. Nach diesem Muster wurden etwa Ausschreitungen in Enfield abgestimmt, nach denen sich die Gruppen wieder auflösten, um sich in Walthamstow erneut zu treffen. Die Polizei rennt hinterher, der massiven Präsenz von Randalierern kann sie nichts entgegenstellen. Niemand hatte zum Beispiel erwartet, dass im Westlondoner Bezirk Ealing etwas passieren würde. Aber die Gangs reisten per Auto an, plünderten und brandschatzten auf ihrem Raubzug durch die High Street und zogen ab, bevor die Polizei eintraf.

Wenn es zur Konfrontation kommt, wird es selbst für die Sicherheitskräfte gefährlich. „Für viele meiner Kollegen“, berichtete ein Polizist, „muss der Einsatz wirklich furchterregend gewesen sein, denn der Mob kannte keine Furcht.“ Die Beamten werden mit Pflastersteinen, Molotowcocktails oder Stöcken beworfen. Zu den Waffen, die konfisziert wurden, gehören Messer, Macheten und sogar Spaten. Die Londoner Polizei hat für die kommende Nacht Verstärkung angefordert.

500 Ermittler durchforsteten derweil am Dienstag die vielen Stunden an Videomaterial, die in den vergangenen Tagen durch die städtischen Überwachungskameras aufgezeichnet wurden. Diese Aufgabe hat jetzt oberste Priorität. Es gibt kaum noch Londoner Beamte, die nicht mit den Krawallen beschäftigt sind. Zu den ersten Verhaftungen sollte es noch vor dem Abend kommen. Schon jetzt sind die Polizeizellen in London sämtlich belegt nach Hunderten Festnahmen. Haftplätze in anderen Teilen des Königreichs wurden frei gemacht.

Schneller und auf ihre Art effizienter als die Polizei waren die Reinigungsdienste, die die ausgebrannten Autos abschleppten und die Scherbenhaufen beseitigten. Tatkräftig unterstützt von Freiwilligen, die sich ebenfalls über soziale Netzwerkdienste organisierten.

Und auch Premierminister David Cameron reagierte. Er brach seinen Urlaub in der Toskana ab, um mit dem Nationalen Sicherheitsrat Strategien gegen den Straßenterror zu beraten. Auf dem Trottoir vor der Downing Street Nummer 10, also dort, wo der beißende Gestank ausgebrannter Autos und verkohlter Gebäude nicht zu spüren ist, erklärte er Dienstagmittag quasi den Kriegszustand im Königreich: „Wir werden die pure Kriminalität besiegen“, sagte Cameron und verkündete, dass 16 000 Polizisten ab sofort Ruhe und Sicherheit in der Stadt wieder herstellen, die nächstes Jahr die Olympischen Spiele ausrichtet. Das sind zwar 10 000 mehr als bisher, aber nach Ansicht der Londoner kommen die viel zu spät zum Einsatz.

Viele Juwelierläden, Spirituosenhändler, Modegeschäfte, Kaufhäuser und Filialen der Elektro- und Handyanbieter waren bereits das Ziel von kriminellen Schnäppchenjägern, die sich kostenlos bedienten. Bei der Auswahl ließen sie sich nicht von dem infernalischen Lärm der Alarmanlagen stören, die in vielen Londoner Einkaufsstraßen schrillten. Aus einem vorbeifahrenden Auto rief eine junge Frau fröhlich: „Ich brauche dringend ein neues Navi.“

Für die Nacht auf Mittwoch sorgen viele Londoner Bezirksbehörden vor. Sie schicken ihre Angestellten vorzeitig nach Hause und raten Geschäftsleuten, es ebenfalls zu tun. Doch für die vielen türkischen und kurdischen Ladenbesitzer im nördlichen Green Lanes kommt ein Nachhausegehen nicht infrage. Ihre kleinen Geschäfte, Kioske, Imbisse und Friseursalons haben selten Rollläden, mit denen sie gegen Angriffe geschützt werden könnten. Stattdessen verteidigen die Männer ihre Geschäfte mit dem eigenen Leben. Teilweise mit Baseballschlägern ausgerüstet stehen sie Wache. Einer Reporterin der britischen Tageszeitung „Guardian“ erzählen sie, dass sie ein Überschwappen der Gewalt in ihre Straßen auf die Weise hätten verhindern können. Aber sie stünden zwischen den Fronten. „Weder vor der Polizei noch vor den Randalierern sind wir sicher“, sagt der Betreiber eines Spätkaufs. „Es brauchte 20 Jahre, um den Laden so weit zu kriegen, wie er jetzt ist. Ich fürchte, dass Polizei und Regierung auch uns angreifen werden, während wir unseren Besitz zu schützen versuchen.“

In Hackney waren die Randalierer zumeist schwarze Jugendliche im Alter von zwölf bis 20 Jahren. „Sie zerstören die Gemeinschaft, aus der sie kommen“, beklagte der Jugendarbeiter Shaun Bailey. Die Krawalle lassen sich nicht wie die Straßenkämpfe der 80er Jahre als ethnischer Konflikt interpretieren. Doch bevor nun wieder eine Kommission mit der Untersuchung der Hintergründe der Krawalle beginnen kann, müssen die erst einmal gestoppt werden – und es ist nicht klar, wann das gelingt.

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