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Krawalle in England: Wenn Wut hochkommt

Im Jobcenter von Manchesters Armenviertel sagt June: „Die Leute hier wollen nicht arbeiten, die sind viel zu fertig.“ Und Sozialarbeiter Dino findet zwar, dass die Randalierer Verbrecher sind – doch er fragt: „Wie wurden sie dazu?“

Sie fahren jetzt mit Lieferwagen durch die Stadt, auf denen große Fotos angebracht sind. Fotos von Männer und Jugendlichen. „Shop a looter“, steht über den Bildern, also etwa: Machen Sie die Plünderer dingfest, helfen Sie der Polizei, damit die Täter für ihre Verbrechen zahlen.

Das ist ihre neueste Fahndungsstrategie – und die kommt gut an in der Bevölkerung. Das hat Police Officer Garry Shewan schon am Freitagabend gemerkt, als er sich in der Market Street postiert hat, um der Öffentlichkeit die neuen fahrbaren Pranger vorzustellen. Die Market Street mit dem gigantischen Arndale Einkaufscenter ist die zentrale Shoppingstraße, und sie war Kampfzone, als – angestachelt durch die Aufstände Anfang der Woche in London – auch in Manchester Horden Unbekannter loszogen, um sich zu holen, was sie begehrten, indem sie die Fenster und Türen der bereits geschlossenen Geschäfte einschlugen.

Das seien „zutiefst unmoralische Menschen“, ist Shewan sicher. Er sagt, dass sie bei der Polizei Videoaufnahmen hätten, die Familien zeigen, die mit dem Wagen vorfahren und dann ihre „Kinder in die Läden schicken, damit die die Flachbildschirme rausholen, und dann fahren sie wieder heim.“ Und die Fotoplakate auf den beiden Autos, die bei ihm in der Fußgängerzone stehen, zeigen zwölf Bilder von jenen, die in besagtem Auto gesessen haben könnten. „Kriminelle, nichts als Kriminelle. Wir werden sie kriegen, wir werden sie alle kriegen“, da ist Shewan ganz auf der offiziellen Linie seines Premierministers. Zu den Ursachen des Unheils aber will er sich nicht äußern. Diese Art Spekulation gehört nicht zur Aufgabe der Polizei.

Außer Shewan und seinen Wanted-Wagen erinnert auf den ersten Blick kaum noch etwas daran, dass in der Nacht zu Mittwoch ein Mob Schrecken, Angst, Gewalt und Zerstörung durch die Straßen trieb. Shewan und vielleicht die Zeitungsverkäufer noch, die die „Manchester Evening News“ kostenlos an die Passanten verteilen, deren erste Seiten die Plünderer abbilden, die bereits verurteilt wurden. Es sind böse wütende brutale Gesichter dabei, denen möchte man nicht einmal am Tag begegnen.

Aber wer diese Menschen sind, woher sie kamen, und warum sie taten, was sie taten, das weiß man immer noch nicht. Die Randalierer nach ihren Motiven fragen ist nicht möglich. Ein Teil sitzt in Haft, der andere Teil outet sich nicht, weil er sonst auch in Haft käme.

Aber wie jetzt weiter nach den Aufständen, fragen sich die Menschen. Was sie sagen, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Im Wetherspoons, Piccadilly Street 49, am anderen Ende der Market Street, einem Pub, in dem England so distinguiert ist wie Deutschland am Ballermann, haben sie die Schlacht mit dem Bier in der Hand erlebt und die ganz einfachen Lösungen parat. „Abknallen alle“, sagt einer, er ist schon ein paar Bier vorne. „Alle? Auch die Kinder?“ Die Antwort geht ein wenig im Sprühregen des Bieres unter, aber so viel ist dann doch noch zu verstehen: „Die Kinder werden auch mal erwachsen. Und dann sind sie immer noch kriminell.“ Einer am Tresen hat Einwände, es kommt zu einem Wortwechsel, es wird lauter, die Männer schubsen und drängeln, eine Schlägerei bahnt sich an, doch dann haben die zwei stämmigen Kerle von der Security, die draußen vor der Tür Wache schieben, die Angelegenheit im Griff. Sie bringen die Störenfriede nach draußen, und die anderen Gäste haben kaum Notiz genommen von dem Intermezzo.

Es gibt noch andere Plakate dieser Tage in Manchester, die ein grimmiges Jungmännergesicht zeigen. Wayne Rooney zum Beispiel, der örtliche und nationale Fußballheld, der für den Sportartikelhersteller Nike wirbt. „Be the weapon, not the target“ steht noch auf dem Plakat, „sei die Waffe, nicht die Zielscheibe“. Eine Parole, die nach den Aufständen seltsam aufstößt, könnte man doch auf die Idee kommen, die Randalierer hätten Rooney nur etwas zu wörtlich genommen. Haben sie nicht, anders als eben in London, die Geschäfte und Häuser der Nachbarschaften verschont und gezielt die Gegenden angegriffen, die allein dem ungehemmten Konsum dienen, die für Luxus stehen? Ist der Terror nicht vor allem ein Aufstand der vom kalten Kapitalismus Abgehängten gewesen? Es gibt Stimmen in diesen Tagen in Manchester, die diese Spekulation bestätigen.

Zwischen den gediegenen Pub Old Wellington Inn und das Arndale Centre haben die Bauherren von Manchester ein kleines Riesenrad gequetscht, wohl in Kopie des berühmten Eye of London. Im Wheel of Manchester kann man für 7,50 Pfund drei Runden drehen, und wer will, auch für 75 Pfund in der Vip-Kabine, dann aber inklusive eines Gläschens Champagner. Ob sich das Rad nur für das neue England dreht?

Auch das Arndale Centre, neu errichtet nach dem IRA-Bombenanschlag von 1996, gibt sich protzig. Das Centre-Gebäude wie auch große Teile der damals neu errichteten und infrastrukturell veränderten Innenstadt sind von der Art, die in den 70er, 80er Jahren die anarchistischen Schlagwortpoeten in Deutschland zu Sprüchen wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ oder „Schade, dass Beton nicht brennt“ inspiriert haben.

Dazu kommen Gegenden wie Salford. Hierher müht sich der Bus die Chapel Street hinauf. Baustellen verhindern die zügige Fahrt, Baustellen, die, so steht es auf einer Stellwand geschrieben, für „einen Wiederaufbau“ der Straße sorgen sollen, damit in der Chapel Street ein „neues Herz für Salford“ schlägt. So eins, wie in den Salford Quays, wo – nach dem Vorbild der Canary Wharf in den Londoner Docklands – Glas und Stahl und eine moderne Architektur für eine Media City die alten Industrieanlagen ersetzt haben, wo die BBC ein großes Studio unterhält, wo ein Burger, der bei Wetherspoons in der Piccadilly Street für unter fünf Pfund inklusive eines Getränks zu haben ist, fast 15 Pfund kostet. Ohne Getränk. Auch in Salford haben die Randalierer gehaust. Fast noch wütender als in der Innenstadt.

Sie kommen mutmaßlich aus einer anderen englischen Lebenswahrheit des 21. Jahrhunderts. Einer, wie sie in Moss Side zu erleben ist, einem südlichen Stadtteil von Manchester. Und viel stärker als zwischen Salford und Moss Side kann ein Kontrast kaum sein. Moss Side gilt als heruntergekommenster, hoffnungslosester und am meisten vernachlässigter Bezirk in England. Einer der gefährlichsten ist er auch. Man ist nicht gut beraten, hier nach Einbruch der Dunkelheit spazieren zu gehen. Und kurz hinter Moss Side steht dann schon wieder Old Trafford, die Heimstatt von Manchester United, dem Fußballklub, der seit Jahrzehnten zu den erfolgreichsten und umsatzstärksten Klubs der Welt zu zählen ist. Da tut sich die nächste Kluft auf.

Im Jobcenter von Moss Side sitzt June, sehr hübsch, schwarz, wie der Großteil ihrer Klientel, und, wenn man von ihrer Kleidung ausgeht, frei von den Sorgen ihrer Schützlinge. Aber in Rage über die Vorkommnisse und die offizielle Haltung dazu kann sie sich trotzdem reden. „Was für einen Job soll ich vermitteln? Und an wen? Die Leute hier wollen nicht arbeiten, wollen keinen geregelten Tagesablauf, die sind viel zu fertig dazu.“ Das deckt sich ziemlich genau mit der allgemeinen Auffassung, dass es sich bei den Randalieren um arbeitsscheues, asoziales Gesindel handele. „Of course“, sagt June, „natürlich, so ist es, und so wird man hier, wenn man keine Ziele mehr hat.“

Es sind trostlose Straßen, durch die man in Moss Side läuft, eine Infrastruktur ist nicht zu erkennen, kaum Geschäfte, schmucklose Häuser, denen anzusehen ist, dass sich niemand um angenehme Atmosphäre kümmert oder keine Kraft mehr dazu hat. Auf einer Grünfläche hängen Jugendliche ab, eher Kinder, sichtbar im Rausch. Was sollen sie machen? Fußball spielen zum Beispiel? Das ist wohl anstrengender, als sich mit einem Joint hinwegzuträumen.

Was Robin Hood und die Taliban gemein haben, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Dino, eigentlich Konstantinos Argeitis, ist gebürtiger Grieche, 27 Jahre alt. Gefühlter Brite, wie er sagt, und Soziologiestudent. Er jobbt am Piccadilly Gardens, mal als Kellner, mal als Nachtportier, und hat bis vor einigen Wochen nebenher als Sozialarbeiter in einem Jugendzentrum in Moss Side gewirkt.

„Natürlich müssen die bestraft werden“, sagt Dino, „Verbrecher sind sie, aber wie sind sie dazu geworden, sind sie so geboren worden?“ Sind sie nicht. Dino hat eine holzschnittartige Skizze der Lebensläufe der Ausgerasteten parat, die so traurig sind wie wohl wahr. „Die Kids haben keine Chance“, sagt er, „die wachsen auf ohne Liebe, bei Eltern, die drogen- und oder alkoholabhängig sind. Werte? Wo sollen sie die her haben? Schulbildung? Wenn die Eltern keinen Wert darauf gelegt haben, woher sollen die Kinder es haben? Ziele? Die Eltern haben nur das Ziel, die staatliche Hilfe abzugreifen, die geben sie aber nicht weiter an ihre Kinder. Die sind sich selber überlassen, von klein auf, niemand kümmert sich um sie, und die staatliche Hilfe wird zusammengestrichen.“ Und dann sieht man im Fernsehen Bilder aus der großen Stadt, sieht, wie da ein paar Leute, denen es geht wie einem selbst, einfach alles zerschlagen.

Es waren schlimme Bilder, die erst von London aus, dann von Birmingham, Manchester, Liverpool und sogar aus mehreren Kleinstädten des Vereinigten Königreiches in die Welt übermittelt wurden. Bilder voller Wut, Hass, Gewalt und vielleicht auch Verzweiflung. Und die Menschen nicht nur in Großbritannien fragen sich: Warum?

Dino sagt, dass er die Unruhen gesehen habe und zuhörte, als ein Kameramann die Jugendlichen fragte: Warum tut ihr das, warum plündert ihr? Und einer von denen habe geantwortet, dass sie sich nur zurückholten, was man ihnen gestohlen habe. „Wenn dieser Aufstand kein sozialer Aufstand war, dann war Robin Hood, auf den sie so stolz sind in England, ein Taliban.“

Am späten Donnerstag jedenfalls agierte die Polizei in Erwartung einer zweiten wilden Nacht deutlich. Bei Anbruch der Dunkelheit wurde die Präsenz der Beamten in der Market Street, an Piccadilly Gardens, im noblen Salford und in der gesamten Innenstadt drastisch verstärkt. Ein Hubschrauber kreiste über der Stadt, berittene Polizisten hatten sich postiert. Auf der Rasenfläche des Piccadilly Gardens pries eine multireligiöse Gruppe die Vorzüge von Gott und der Liebe zwischen den Menschen. Möglicherweise trauten die Beamten der Überzeugungskraft der Botschaft nicht ausreichend, jedenfalls bildeten sie einen Kreis um die Gruppe und verteilten an deren Mitglieder Handzettel, die zu Mitarbeit auffordern. „If your were involved, we will find you“, steht unten auf dem Blatt. Beruhigend ist sie, die starke Präsenz der Polizei. Für vermutlich alle – sogar die Polizisten selbst.

Es gibt in Manchester Polizisten, die sagen, dass sie Angst um ihr Leben gehabt haben: „Wir hätten auch sterben können.“ Ja, vielleicht, wahrscheinlich sogar. Einer der Männer, deren Gesichter in den „Manchester Evening News“ abgedruckt sind, sitzt jetzt ein, weil er einem Polizisten, so das Protokoll, von hinten unter das Helmvisier gegriffen und versucht hat, ihm ein Auge zu zerquetschen.

An einem der zerstörten Eingänge zum Arndale Centre haben Ladenbesitzer die zersplitterten Fensterscheiben durch Spanholzplatten ersetzt. Und trotzige Plakate darauf geklebt. Auf denen steht: „Wir haben geöffnet wie immer.“

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