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Politik: Kreuzberger Wirklichkeit

Von Gerd Nowakowski

Sie gaben der Revolte den Sound, der Randale den Rhythmus – am 1. Mai sind sie wieder in Kreuzberg dabei: „Ton Steine Scherben“ werden nach Jahren der Auflösung wieder dort spielen, wo vor zwanzig Jahren die Randale ihren Ursprung nahm. Damals entstand der Mythos des Krawalls im Stakkato der aufprallenden Steine, im Trommeln der Polizei-Schlagstöcke, im Geheul der Sirenen und dem Prasseln der Flammen, die den Bolle-Supermarkt verheerten. Unvergängliche Bilder, vergangene Zeiten.

Der Auftritt der Band, die einst das musikalische Sprachrohr der Hausbesetzer war, die die Straßenschlachten um das besetzte Bethanien-Krankenhaus besang, gibt dem diesjährigen „Myfest“ den Ton einer augenzwinkernden Folklore. Das Fest, mit dem 2003 einige Kreuzberger erstmals das scheinbar naturwüchsige Ritual der Gewalt durchbrachen, ist deshalb erfolgreich, weil es zu einem Ritual der Selbstvergewisserung des friedlichen Kreuzbergs geworden ist. Es ist eine Manifestation eines neu gewachsenen Wir-Gefühls, der Aufstand jener Kreuzberger, die sich ihren Kiez nicht länger kaputt machen lassen wollen, nicht länger hinnehmen, dass die Oranienstraße zum Aufführungsort für eine fragwürdige Gewaltästhetik gemacht wird. Zur Befriedung beigetragen haben die selbstbewussten Bürger – ja, Bürger – jener Generation aus Alternativen, Grünen und Linken, die ein Geflecht von Läden, Kollektiven und sozialen Einrichtungen aufgebaut und damit ihrem Bezirk erst den vitalen und liebenswerten Charme gegeben haben.

Nicht, dass die Lust auf Randale gänzlich verschwunden wäre. Es hat bei der radikalen Linken nicht an Versuchen gefehlt, diesen 1. Mai politisch aufzuladen: die Straßenschlachten nach der Räumung eines Wohnprojekts in Kopenhagen, die anstehende Versteigerung des besetzten Hauses „Köpi“ in Mitte und der Protest gegen den G-8-Gipfel sollen den Stoff für einen lodernden Protest liefern. Seit Wochen gibt es in Berlin wieder Brandanschläge auf Autos. Doch alle Gesten der Stärke können nicht darüber täuschen, dass die radikale Linke schwach und ausgezehrt wirkt. Zu den sozialen Problemen des Bezirks, zu Armut, Gewaltkriminalität von jugendlichen Migranten oder Abwanderung von deutschen Familien mit Kindern hat sie nichts zu sagen.

Auch die Polizei hat gelernt: vor allem, dass Gefühl und Härte, das alte Motto der Autonomen, richtig dosiert, der Schlüssel zur Befriedung sind. Es gibt kein Recht auf Krawall – wer es dennoch versucht, bekommt die ganze Härte zu spüren. Richter scheuen sich nicht mehr, für Steinewerfer auch Haftstrafen zu verhängen. Das hat die Hemmschwelle deutlich erhöht, auch bei erlebnishungrigen Migrantenkids. Zum Nachdenken beigetragen haben die Präventionsarbeit der Polizei in den Schulen und die Gespräche mit den türkischen Gemeinden. Eine Polizei, die Deeskalation ebenso beherrscht wir den schnellen Zugriff, kann erleben, dass ihr die Menge den Weg frei macht und sich nicht wie einst mit den Steinewerfern solidarisiert.

Ob es in der Walpurgisnacht in Prenzlauer Berg gänzlich friedfertig bleibt, ob am 1. Mai in Kreuzberg einige der Ästhetik des Krawalls nachspüren wollen, vermag niemand zu sagen. Es bleibt dennoch gestrig. „Ton Steine Scherben“ werden bejubelt, zum Stein wird danach niemand mehr greifen. Auch Mythen überschreiten irgendwann ihr Haltbarkeitsdatum. Das ist tröstlich. An der Stelle übrigens, an der am 1. Mai 1987 der Bolle-Markt ausbrannte, wird dieser Tage eine Moschee eröffnet. Das ist die Kreuzberger Wirklichkeit.

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